"Der "letzte" Winter"
Der Schnee glitzerte im Sonnenlicht. Ein ungewöhnlich warmer Wind ließ mich meine Schritte beschleunigen. Immer wieder tauchten riesige Löcher im Eis auf und zwangen uns, ein Stück zu schwimmen. Ich packte mein Junges am Nacken, zog es mit mir durch das kalte Wasser. Obwohl ich wie jedes Jahr zur selben Zeit unterwegs war, taute das Eis bereits auf. Die Wasserlöcher wurden immer größer und wir mussten öfter Pausen einlegen. Auch die Nächte waren nicht mehr so kalt und erinnerten mich eher an die im Sommer. Schon erreichten wir das nächste Wasserloch. Als wir auf dem sicheren Packeis ankamen, dämmerte es bereits. Wir hatten seit Tagen nichts mehr gefressen. Ich ließ mein Junges auf dem Packeis zurück. Instinktiv rollte es sich zusammen und bewegte sich nicht mehr. So konnten es seine Feind nur schwer von dem Eis unterscheiden. Leise machte ich mich auf den Weg. Vorsichtig setzte ich eine Pranke vor die andere, während ich nach einer Robbe Ausschau hielt. Sie lag am Eis, direkt neben einem Wasserloch. So leise, wie ich konnte schlich ich näher. Als ich nur noch wenige Meter von ihr entfernt war, lief ich los. Erschrocken hob sie ihren Kopf. Ich spannte meine Muskeln und setzte zu einem kräftigen Sprung an. Plötzlich brach das Eis unter mir. Als ich wieder zu meinem Jungen kam lag es winselnd vor Hunger im Schnee. Wir konnten nicht mehr länger.
Sobald die Sonne aufging machten wir uns auf den Weg. Es konnte nicht mehr weit zum Festland sein, das spürte ich. Heute brannte die Sonne noch stärker auf uns herab. Die Wasserlöcher wurden noch größer und ich hatte Mühe, mein Junges durch das mittlerweile ebenfalls wärmere Wasser zu ziehen. Mein nasses Fell klebte an mir, als ich endlich das rettende Festland entdeckte. Doch die Wasserfläche, die sich vor uns auftat, machte mir Angst. Mein Blick suchte nach einem Weg, auf dem wir sie umrunden konnten, doch ich konnte weit und breit nichts entdecken. Ich packte mein Junges am Nacken und sprang ins Wasser. Stück für Stück kämpfte ich mich voran. Die Kraft verließ mich, doch ich durfte nicht aufgeben. Es konnte nicht mehr weit sein. Plötzlich erschlafften meine Beine. Ich konnte mich kaum noch über Wasser halten. Mit letzter Kraft schubste ich mein Junges in Richtung unserer Rettung. Es sah mich verzweifelt an, aber strampelte mit seinen kleinen Beinchen los. „Da ist ein Eisbär und sein Junges! ,“ hörte ich einen Schrei. Ich drehte meinen Kopf in Richtung des Geräusches. Es waren Menschen, die vor einem ihrer Nester standen. Ein kleiner Junge war auch dabei. In seinen Augen sah ich Angst, Trauer und einen Ausdruck, der mich sehr überraschte. Es war Schuldbewusstsein. Er stand wie versteinert im Schnee und blickte mich mit seinen eisblauen Augen entsetzt an. Für einen kurzen Augenblick verschmolzen unsere Blicke und ich spürte seine tiefe Trauer. Wir wussten beide genau, was als nächstes passieren würde…
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