Der Läufer
Der Schlüssel steckt, der Gang ist schon eingelegt, die Handbremse ist gelöst, doch ich sitze verstummt in meinem Ledersessel. Meine verschwitzten Hände umschließen fest das Lenkrad, so fest, als hätte ich Angst, dass es mir aus dem Griff gleiten könnte. Alles, was ich bis jetzt in meinem Leben getan habe, führt zu diesem Moment hin. Ich war schon immer schnell; seit der Volksschule hatte ich bei fast allem einen großen Vorsprung; doch in einer Sache übertraf ich meine Mitmenschen ganz besonders: beim Laufen. Ich liebte es, so schnell und so lange zu laufen, wie meine Beine es mir erlaubten. Ich war nicht einfach irgendein Kind, dass hin und wieder mal ein paar um den Wohnblock lief, ich hatte unglaubliches Talent und Potential. Dieses Talent blieb zum Glück nicht unbemerkt: man bot mir verschiedenste Trainingsmöglichkeiten an und ich nahm sie alle an. Meine ganze Jugend lief ich jeden Tag der Woche, egal ob auf der Laufstrecke oder auf der Straße, ohne dem Laufen war ich nichts. Ich begann, mich bei fast jedem Wettkampf an dem ich teilnahm, gegen die Konkurrenz ohne großen Widerstand durchzusetzen. Als ich erwachsen wurde, und mir gesagt wurde, dass ich die Sache mit dem Laufen am Rande lassen sollten, um mich auf das „echte Leben“ zu konzentrieren, trotzte ich den Zweiflern und entschied mich Voll und Ganz der Ekstase hinzugeben, die mich beim Laufen erfüllte. Nach dieser Entscheidung baute ich mir allmählich eine Karriere auf; ich hatte selten etwas anderes im Kopf als das Training und das Laufen. Der Zustand, in den ich jedes Mal aufs Neue beim Rennen verfiel, war viel besser als Alles was mir ein Partner oder Freund jemals bieten könnte. Nichts könnte diesen Rausch ersetzen und ich habe auch keine Realität gesehen, in der ich ohne diese Euphorie leben könnte. Doch, wie man bereits erahnen kann, wurde mir genau das geraubt. Die Details des Abends, an dem sich mein Leben unwiderruflich zum schlimmsten wendete, sind sehr verschwommen. Laut dem Krankenhauspersonal war ich von meiner täglichen Einheit am Laufplatz auf dem Weg nachhause, als ich bei grüner Ampel den Schutzweg überquerte und mich ein rasender Kleinwagen von der Seite erfasste und durch die Luft schleuderte. Ich landete auf meinen Beinen, was mir wohl das Leben rettete, es aber gleichzeitig auch ruinierte. Der Fahrer ist geflohen und wurde natürlich gefasst und verurteilt, jedoch wird das nicht meine Passion und einzigen Sinn im Leben zurückbringen. Nun sitze ich hier, Jahre später, mit zwei kaum brauchbaren Beinen, in meinem Sportwagen; viel mehr besitze ich nicht mehr. Ich hätte mein verdientes Schmerzensgeld sicher sinnvoller verwenden können, doch meine Leidenschaft und hedonistisches Verlangen nach Tempo hat mich übernommen. Das Tempolimit sättigt schon lange nicht mehr jenes Verlangen, ich muss einfach schneller sein. Der Motor knurrt, und ich fahre los. Mir ist der Rest der Welt egal, auch wenn der junge Jogger bei der Kreuzung dort vorne gerade den Zebrastreifen überquert.
Wir danken unseren Unterstützern
Mit Unterstützung folgender Wiener Bezirke:




















Für Sponsoringanfragen wenden Sie sich bitte an Margit Riepl unter margit.riepl@gmx.at
Wenn Sie "Texte. Preis für junge Literatur" unterstützen möchten, spenden Sie bitte auf folgendes Konto:
Literarische Bühnen Wien, Erste Bank IBAN: AT402011182818710800, SWIFT: GIBAATWWXXX