Der Preis der Unbeugsamkeit
Meine Hände zitterten. Sie waren blutüberströmt. Mein Herz raste, als ob es ein Rennen gegen sich selbst machen würde. Mein Entsetzen über das Geschehene schnürte mir die Kehle zu. „Bitte, Papa, wach auf!“, schluchzte ich hemmungslos. Ich drückte noch fester auf die Schusswunde im Bauch, um die Blutung zu stillen, aber es gelang mir nicht. In meinem Kopf drehte sich ein Karussell fürchterlicher Bilder, gleichzeitig war ich wie gelähmt. Dabei war ich gerade der Einzige, der etwas für ihn tun konnte. Denn ich bin Arzt, so wie er.
Unsere Stadt war lebenswert. Es ging uns gut. Meine Mutter war Buchhändlerin und meine Schwester Lehrerin, bevor die Terrorristen unser Land besetzten. Mit ihrer Ankunft wurde alles anders. Wie viele Menschen, verloren wir unsere Arbeit. Das nahgelegene Einkaufscenter war durch eine Bombe zerstört worden, eine Hungersnot bahnte sich an. Das Lachen der spielenden Kinder auf den Straßen war verstummt. Entgegen allen Beteuerungen zogen die neuen Machthaber von Haus zu Haus und begannen potenzielle Gegner auszuschalten. Viele resignierten, nur eine Minderheit wagte den Widerstand, der mit unvorstellbarer Brutalität verfolgt wurde. Wir gehörten zu den Unbeugsamen.
Ein leichtes Zucken der Augenlider! „Papa!“ Kurz schöpften wir Hoffnung. „Ich liebe euch, Dilara, Aasmaa und Ana, meine treue Gefährtin. Aber…“ Er schnappte nach Luft. „Ihr müsst jetzt gehen.“ „Nein, Aamun!“, schrie Mutter verzweifelt. Sie und Dilara umarmten ihn. „Papa, halte durch! Wir verlassen jetzt zusammen das Land und eröffnen wieder eine gemeinsame Praxis und…“ „Sohn…“ Draußen hörten wir schrilles Geschrei, die Schergen der Aggressoren kamen näher. „Ich bin stolz darauf, was aus dir und Dilara geworden ist.“ Er musste schwer schlucken. „Gebt Acht auf euch. Ich werde immer in euren Herzen sein.“ „Nein, nein!“ „Es ist gut, Aasmaa. Ich habe Frieden damit geschlossen.“ Noch weigerte ich mich anzuerkennen, was ich bereits wusste. „Papa, gemeinsam schaffen wir es hier raus‘.“ „Ich liebe deinen Optimismus, Aasmaa.“ „Sie kommen!“, schrien unbekannte Stimmen. Schüsse folgten. „Geh, bitte. Nimm deine Schwester und Mutter und geh‘. Ich liebe euch!“ „Ich liebe dich auch, Papa.“ Ich drückte ihn ein letztes Mal an mich, dann starb er.
Ein paar Häuser weiter wartete ein Jeep auf uns. NGOs brachten uns auf Umwegen über die noch einzig offene Landesgrenze. Wenn ich heute zurückdenke, so kann ich mich an unsere Flucht kaum noch erinnern. Wir waren angesichts der Ereignisse wie in Trance.
Heute führe ich, wie mein Vater vor mir, eine Arztpraxis, in der ich auch Menschen behandle, die sich keinen Arzt leisten können. Auf diese Weise ehre ich das Andenken an ihn und gebe die Hilfe weiter, die ich selbst erhalten habe. Vielleicht werde ich eines Tages in die Stadt meines Vaters zurückkehren können, aber damals mussten wir gehen. Wenn einem nichts mehr bleibt, woran man glauben kann, dann stirbt auch die Hoffnung – dann muss man gehen, wenn man überleben will.
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