Der Schuss
Wolkenlos ist der Sternenhimmel in dieser Neumondnacht. Der Blick auf die Milchstraße ist ungetrübt. Ein junges Pärchen geht Händchen haltend die Hauptstraße entlang, nicht ahnend, was das Schicksal an diesem Abend noch für sie bereithält.
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Ich gehe glücklich schweigend neben Franz die Straße entlang. Der Abend mit ihm war wirklich schön. Seine rechte Hand tastet sich gerade vorsichtig an meine linke heran. Zögerlich verschränken sich seine Finger mit meinen. Seine Hand ist schwitzig. Ich glaube, er ist immer noch sehr nervös, wenn wir Händchen halten. Unwillkürlich beginne ich zu lächeln. Er ist so süß, wenn er nervös ist. Trotzdem fühle ich mich in seiner Gegenwart sicher und geborgen. Straßenlaternen tauchen die Hauptstraße in helles Licht, die Seitengassen jedoch, erleuchten sie nicht. Sie sind wie Abgründe der Finsternis, gleichen schwarzen Löchern, die jegliches Licht verschlingen. Dort spart man sich die Beleuchtung, hat Franz mir erklärt. Zu wenige Menschen kämen nach Einbruch der Nacht dort vorbei. Kosten-Nutzen-Rechnung und so. Ich weigere mich, in diese Abgründe zu schauen. Sollen sie ihre Geheimnisse für sich behalten. Mein Blick wandert wieder einmal nach oben. Die Milchstraße zieht mich, genau wie alle Male davor, in ihren Bann. Der große Wagen, das einzige Sternbild, das ich kenne, ist im Vergleich dazu völlig unbedeutend. Ich verliere mich in Gedanken über die Unendlichkeit des Alls.
Plötzlich spüre ich, wie Franz‘ Hand meine quetscht. Das holt mich in die Gegenwart zurück. Vor uns steht ein maskierter Mann. Er ist kräftig gebaut, maskiert und bedroht uns mit einer Pistole. Mein Herz beginnt zu rasen. Der Fremde fuchtelt wild mit ihr herum und schreit immer wieder, er wolle unser Geld. Und ich habe nicht einmal bemerkt, wann er aus den Schatten getreten ist. Dabei müsste man ihn eigentlich gehört haben, so laut, wie er jetzt ist. „Verschwinde, unser Geld bekommst du nicht! Was bildest du dir eigentlich ein?“, Franz scheint nicht zu glauben, dass uns der Angreifer etwas tun würde. Dennoch stellt er sich schützend vor mich. Der Angreifer kommt näher. Er zielt nicht mehr auf uns beide, wie bisher, sondern nur noch auf Franz. Scheinbar hat ihn der unerwartete Widerspruch erzürnt. Mein Herz hüpft mir vor Sorge um Franz förmlich aus der Brust.
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Eigentlich hatte ich diesen Abend anders geplant. Konnte doch keiner ahnen, dass die Alte genau morgen ihr Geld zurückwill. 1000€ bar auf die Hand. Und wo soll ich die hernehmen, wenn nicht stehlen? Alles nur wegen meinen Spielschulden. 500€ sind doch wirklich nicht der Rede wert. Und 100 Prozent Zinsen sind über alle Maße übertrieben. Also wirklich. Aber was solls, das Geld muss her, sonst stecke ich in ernsthaften Schwierigkeiten. Mit ihren Schlägertypen, die das Geld sonst aus mir herausprügeln, ist nicht gut Kirschen essen. Gegen zahlenmäßige Überlegenheit sind auch meine Muskeln machtlos.
In einer der finsteren Seitengassen entlang der Hauptstraße habe ich mehrere Stunden gewartet. Das Atmen unter der Strumpfmaske fällt mir mittlerweile schwer. Die passenden Opfer waren noch nicht dabei. Aber die zwei Turteltäubchen dort vorne schauen vielversprechend aus. Beide elegant in Abendgarderobe gekleidet. Sie mit offensichtlich teurem Schmuck behängt. Er eine Rolex am Handgelenk. Alles schön und gut, aber ich bekomme weder noch bis morgen verhökert. Aber wer so rumläuft, muss auch eine gut gefüllte Geldbörse dabeihaben.
Jetzt stehe ich vor ihnen und halte ihnen meine Knarre ins Gesicht. „Hände hoch, Geld her!“ brülle ich. Überfälle bin ich nicht gewohnt. „Na los! Wird’s bald?“, ich bin nervöser als gut für mich ist. „Rückt das Geld raus, dann bin ich gleich wieder weg!“ „Verschwinde, unser Geld bekommst du nicht! Was bildest du dir eigentlich ein?“, bekomme ich als Antwort, während sich der Kerl vor seine Freundin schiebt, um sie zu beschützen. Er spielt sich unnötig auf, finde ich. Seiner Gesundheit wäre es weitaus zuträglicher, mir einfach seine Brieftasche zu überlassen.
Bis jetzt hatte ich die Pistole auf beide gerichtet. Aber dieser Suppenkasper macht mich wirklich grantig. Mein Gesicht verzieht sich vor Zorn. Der Lauf meiner Pistole zielt nun exakt auf sein Herz. Das Püppi schaut aus, als ob sie gleich ihn Ohnmacht fliegt. Um die mache ich mir keine Gedanken.
Langsam, aber sicher verliere ich die Nerven. Mein linker Zeigefinger zuckt gefährlich am Hahn der Waffe. Ich will doch nur die Brieftasche. Gewalt ist der allerletzte Ausweg. Der immer verlockender wird. Der Snob ist mittlerweile aschfahl im Gesicht, weigert sich aber beharrlich, mir sein Geld zu überlassen. „Ich ruf die Polizei. Sobald Sie wieder weg sind, rufe ich die Polizei. Die wird Sie ganz schnell verhaften. Weit kommen Sie nicht. Dafür sind Sie zu auffällig gebaut.“ Sieh an, sieh an. Vor lauter Angst fängt der doch tatsächlich an, mich zu siezen. Als ob die höfliche Tour ihm irgendwas bringen würde. Sein Problem ist, ich glaube ihm. Und ich habe nicht vor, mich verhaften zu lassen.
Ich drücke ab. Die Kugel zerfetzt seine Brust, bohrt sich in sein Herz. Röchelnd sackt er zu Boden. Ich überwinde die letzten Meter zwischen uns. Hastig durchwühle ich seine Taschen. Von ihm kommt keine Gegenwehr mehr. Das Blondi schreit sich in panischer Angst die Seele aus dem Leib. Endlich finde ich die Brieftasche. Ich reiße sie an mich, stopfe sie in die Seitentasche meiner Jacke. Dann laufe ich. Laufe, so schnell ich kann. Weigere mich zu realisieren, dass ich gerade Mord begangen habe. Laufe weiter und rede mir ein, dass der Zweck die Mittel heiligt. Das meine Schulden mir keine andere Wahl gelassen haben.
***
Ich stehe vor dem bulligen Mann. Anna steht hinter mir. Ich habe mich vor sie gestellt. Ich hoffe, sie so zu schützen, sollte die Situation eskalieren. Noch bin ich überzeugt, Anna und mich unbeschadet durch die Nacht zu bringen. Noch bin ich nicht allzu eingeschüchtert. „Verschwinde, unser Geld bekommst du nicht! Was bildest du dir eigentlich ein?“, möchte ich von dem Maskierten wissen. Meine Widerrede jedoch scheint dem Angreifer zu missfallen. Der Lauf seiner Pistole zeigt nun exakt auf mein Herz.
Nun wird mir doch mulmig zumute, langsam, aber sicher entweicht jegliche Farbe meinem Gesicht. Meine Überzeugung bröckelt, zerfällt zu Staub, wird davongeweht von unbeschreiblicher Angst. Angst, wie ich sie noch nie im Leben verspürt habe. Angst, die mir klarmacht, dass mein Leben nicht mehr in meiner Hand liegt. Ich wage einen letzten verbalen Vorstoß: „Ich ruf die Polizei. Sobald Sie wieder weg sind, rufe ich die Polizei. Die wird Sie ganz schnell verhaften. Weit kommen Sie nicht. Dafür sind Sie zu auffällig gebaut.“ Die leise Hoffnung, per Sie und mit Logik meine Haut zu retten, verstummt. Wird zum Schweigen gebracht, als eine Patrone durch den Brustkorb bis zu meinem Herzen vordringt.
Während ich röchelnd auf die Pflastersteine falle, merke ich noch, wie Anna schreit. Aus Panik, Verzweiflung, Angst um mich. Ich empfinde Bedauern, weil unsere letzten gemeinsamen Augenblicke von Gewalt und Willkür geprägt sind. Augenblicke, die unendlich lange dauern. Augenblicke, die viel, viel zu kurz sind. Ich empfinde Reue, weil mich meine Torheit die Chance auf eine glückliche Zukunft mit ihr gekostet hat. Ich empfinde Hass auf den Mann, der sich dazu entschieden hat, meinem Leben ein Ende zu setzen. Ich empfinde Mitleid mit ihm, weil er glaubt, keine andere Wahl zu haben. Ich empfinde innere Ruhe, als ich meinen letzten Atemzug tue.
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