Der Sprung
Er steht nah am Abgrund. Der Wind bläst unablässig. Gerade sind die Böen stark. Die noch sanften Wellen im Wasser tief unter ihm brechen immer heftiger an den Klippen. „Locker zehn Meter“, glaubt er, aber er muss springen. Die Menge hinter ihm erwartet es. Er hat es versprochen. Noch ist er ein Außenseiter. Ein letzter Blick über die Schulter. Auch sie steht dort. Von allen will er sie am meisten beeindrucken. Vielleicht bemerkt sie ihn dann endlich.
Schweißtröpfen haben sich schon am Weg an den Rand auf seiner Stirn gebildet. Seine Knie drohen, ihn im Stich zu lassen. Er weiß nicht, ob sie sein Gewicht in zehn Sekunden noch tragen können. Sein Atem geht flach und schnell. Schnell wie noch nie zuvor.
Anlaufen wollte er. Anlaufen und springen. So hat er es geübt. Zuerst aus drei, dann fünf Metern. Viele hundert Mal. Die ganze letzte Woche lang. Aber sich wieder vom Abgrund entfernen? Das schafft er jetzt nicht. Dann würde er kneifen. Also unspektakulär. Ein Schritt nach vorn, und er fällt.
Die Mechanismen greifen. Automatisch presst er seine Arme so eng wie möglich an sich. Er streckt die Zehen, zieht das Kinn zur Brust. Die Beine sind geschlossen und gestreckt. „Alles wird gut“, denkt er.
Er hat die Windverhältnisse unterschätzt. Während er fällt, merkt er, dass sein Oberkörper nicht aufrecht genug ist. Er weiß, was passieren kann, sollte er einen Rückenklatscher aus der Höhe machen. Primitive Instinkte übernehmen die Kontrolle. Nicht die, die er sich antrainiert hat. Plötzlich gerät er in Panik. Unwillkürlich gehen seine Beine etwas auseinander. Seine Arme streckt er leicht von sich. Natürlich hilft ihm das nicht. Er ist immer noch zu schief. „Der Aufprall wird wehtun“, befürchtet er.
Schon spürt er, wie sein Körper auf der Wasseroberfläche aufprallt. Nach einem Sprung aus dieser Höhe ist sie hart wie Beton. Seine Fersen kommen nur einen Sekundenbruchteil vor seinem Rücken auf dem Wasser auf. Alle Luft wird aus seiner Lunge gepresst. Ein heftiger, alles überwältigende Schmerz breitet sich in seinem Körper aus. Im Rücken ist er am stärksten. Auch sein Hinterkopf hat beim Aufprall etwas abbekommen. Sein ganzer Körper ist mittlerweile unter Wasser. Er kann kaum einen klaren Gedanken fassen. „Nie wieder“, schwört er sich noch, dann dreht sich alles. Ihm wird schwarz vor Augen. Er fällt in Ohnmacht.
Der Sprung hat nur wenige Sekunden gedauert. Sekunden, in denen er hauptsächlich von Angst und Panik erfüllt war. Sekunden, die ihm Anerkennung und Respekt eingebracht haben. Sekunden, die für ihn tödlich geendet hätten, ohne die, die ihn sofort rausgeholt haben. Sekunden, aus denen er seine Lehren zieht. Sekunden, die er bereut. Sekunden, die nur bewirkt haben, dass sie ihn für einen absoluten Vollpfosten hält.
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