Der stumme Therapeutvon Mariella Köchl
Keiner würde wissen, dass mein Schweigen sie umgebracht hatte.
Einatmen. Ausatmen. Nichts anmerken lassen. Ruhig bleiben. Ich wollte ihr zeigen, dass ich ihr zuhörte. Ich wollte ihr sagen, dass ich für sie da war. Aber ich durfte nicht reagieren. Auf keinen Fall. Deshalb ignorierte ich mein rasendes Herz und dieses beklemmende Gefühl in meiner Brust.
„Dann kam er in mein Zimmer.“
Es war so schwer. Ich wäre am liebsten aufgesprungen, hätte geschrien und Lara geholfen. Ich wäre gerne zur Polizei gelaufen. Hätte irgendetwas getan. Oder zumindest mit ihr darüber geredet, um weder sie noch mich alleine damit zu lassen. Aber ich durfte nicht.
Nach dem Unfall, als ich zwölf war, kam ich in ein Waisenhaus. Ich hatte nicht gesprochen. Alle hatten gedacht, ich sei stumm. Und taub, weil ich nie auf irgendetwas reagierte. Taubstumm. Ich war es nicht. Ich kam in eine neue Familie. Jeder dachte, dass ich taubstumm sei. Meine Eltern wären enttäuscht von mir, wenn sie noch leben würden. Wenn sie wüssten was ich tat, würden sie sich so sehr für mich schämen. Ich war nicht ihre kleine Prinzessin. Nicht mehr. Schwach. Ich war schwach, weil ich mit dem Unfall nicht fertig wurde. Nicht loslassen konnte. Und nicht mehr sprach.
„Er sagt mir immer, dass ich leise sein muss.“
Ihre verzweifelte Stimme zerriss mir das Herz. Jedes ihrer Worte, hinterließ einen stechenden Schmerz tief in mir. Ruhig bleiben. Ich musste ganz ruhig bleiben. Normal atmen. Keine Miene verziehen. Nicht zusammenbrechen. Nicht weinen. Weil alle dachten ich sei taubstumm, erzählten sie mir Dinge, die sie loswerden wollten. Die sie loswerden mussten. Wenn sie genug hatten. Wenn sie nicht mehr konnten. Sie erzählten mir Dinge, die sie keinem sonst erzählen konnten. Sie erzählten mir Dinge, die ich nicht hören wollte. Ich durfte mir nichts anmerken lassen. Ich musste diesen Menschen helfen.
Jonas Schweiger. Mein neuer kleiner Bruder. Aus der neuen großen Familie. In der sich alle daran gewöhnt hatten, dass ich auf meinen Namen nicht reagierte. Dass ich nicht darauf reagierte, wenn mich jemand ansprach. Dass ich auf nichts reagierte. Er war der Erste gewesen, der mir sein Geheimnis erzählt hatte. Dass er in der Schule gemobbt wurde. Weil er homosexuell war. Ich hätte ihn gerne getröstet. Ihm gerne geholfen. Ihm gesagt, dass alles gut werden würde. Aber das durfte ich nicht. Er hatte mir davon erzählt, weil er es loswerden musste. Nicht weil er Hilfe wollte. Hätte er Hilfe gewollt, hätte er es seinen Eltern gesagt. Oder einem Lehrer. Oder der Polizei. Und nicht dem taubstummen Mädchen, das im Zimmer neben ihm wohnte und so wie er, psychisch zerstört war. Meine Seele war genauso gebrochen, wie seine.
„Ich würde am liebsten schreien. Aber er sagt, wenn ich es tue, geht er zu meiner Schwester. Ich liebe sie. Ich muss sie doch beschützen, oder nicht? !“
Ich biss die Zähne zusammen. Ich versuchte mich auf das Buch zu konzentrieren. Nicht reagieren. Ruhig bleiben. Ausblenden. Das Brennen in meinen Augen ignorieren. Den Kloß in meinem Hals herunterschlucken. Mein rasendes Herz ruhig halten. Und doch waren alle meine Sinne auf das konzentriert, was sie mir erzählte.
Seit Jonas kamen immer mehr Leute zu mir und erzählten mir von ihren Problemen. Von der alkoholkranken Tochter. Dem verstorbenen Sohn. Der Kündigung am Arbeitsplatz. Den unbezahlbaren Rechnungen. Dem gewalttätigen Ehemann. Den unzähligen Selbstmordversuchen. Den Depressionen. Sie erzählten mir von ihrer ganz persönlichen Hölle, die dann zu meiner wurde. Sie konnten es mir erzählen, ich konnte es keinem erzählen. Sie dachten ich kann es nicht hören. Ich kann es niemandem weiter erzählen. Ich war ihr schweigender Therapeut. Sie wussten nicht, dass sie mich zerstörten. Dass sie mich mit jedem ihrer Worte folterten. Dass ihre Geschichten sich in meinen Kopf und in meine Seele brannten. Ich würde am liebsten alles herausschreien. So vieles hatte ich schon gehört. Und konnte nichts vergessen. Es keinem erzählen. Wenn ich wieder sprechen würde, dann würden sich die Menschen fühlen, wie ich mich fühlte. Gebrochen, gefoltert, zerstört, betrogen, alleine. Und das konnte ich nicht zulassen.
Meine Eltern wären nicht stolz auf mich. Sie hätten gesagt, dass ich diesen Menschen helfen sollte. Doch konnte ich ihnen am besten helfen, wenn ich schwieg. So tat, als könnte ich sie nicht hören. Als würden mich ihre Probleme nichts angehen. Als würde ich nicht wissen, wovon sie sprachen. Ich hatte längst genug von diesen Geheimnissen. Ihren Problemen, die sie bei mir abluden. Vielleicht hatten mich auch diese Menschen dazu gebracht zu schweigen. Vielleicht hätte ich wieder angefangen zu sprechen, wenn diese Leute nicht begonnen hätten, mich als ihr Tagebuch zu verwenden. Ihre Geheimnisse in meinem Kopf einzuschließen. Doch wenn ich etwas sagen würde, wäre alles vorbei. Diese Menschen könnten zu niemandem mehr gehen. Ich dachte, jeder hatte seine Aufgabe. Das war meine. Eine Grausame, die mich zerstörte, mich umbrachte. Aber es war meine Aufgabe.
„Es ist nicht fair!“
Ich durfte nicht zusammen zucken. Ich musste sie ignorieren. Ich konnte sie schließlich nicht hören. Und wusste nicht, wovon sie sprach.
„Warum? Warum passiert das? Warum hilft mir niemand? Ich verstehe es nicht!“
Ich durfte nicht. Ich durfte nichts sagen. Nicht weinen. Nichts tun. Meine Finger verkrampften sich um das Buch. Ich musste mich beherrschen. Meine Brust hob und senkte sich, ohne dass ich atmete. Ich hielt die Luft an und zwang mich, nicht aufzusehen. Nicht in ihre Augen in denen ich nur Trauer und Verzweiflung und Angst sehen würde.
„Ich werde es beenden.“
Aus dem Augenwinkel erkannte ich, dass sie mich bedauernd ansah. Aber zugleich auch entschlossen. Ich durfte nichts tun. Ich musste sie ignorieren. Sie war nur Luft.
„Ich werde mich umbringen.“
Mein Herz schien stehen zu bleiben nur um dann in doppeltem Tempo wieder weiter zu schlagen. Das konnte sie doch nicht tun!
„Heute noch.“
Kein Muskel in mir bewegte sich. So sehr ich es auch wollte. Ich durfte nichts sagen. Nichts tun. Ich saß steif da. Ließ meine Augen über die Zeilen schweifen ohne zu lesen.
„Danke, dass du für mich da warst.“
Ihre Seele war gebrochen. So wie meine. Aber wenn ich ihr helfen würde, würde ich alle anderen, die mich brauchten, im Stich lassen. Sollte ich ihr nicht trotzdem helfen? Ich wollte sie ansehen. Sie anflehen, es nicht zu tun. Schreien, wüten, toben, weinen. Ich tat nichts davon.
Ich beging gerade einen Mord. Indem ich schwieg. Indem ich nichts sagte. Ich wusste, dass sie sich umbringen würde. Ich schwieg. Sie verließ langsam mein Zimmer. Ich bewegte mich nicht. Mit jedem Schritt, den sie tat, wurde der Drang, sie aufzuhalten, größer. Ich musste es doch tun! Ich konnte sie doch nicht gehen lassen. Aber ich durfte auch die anderen Menschen nicht im Stich lassen. Lara schloss die Türe hinter sich. Die Tränen rannen über mein Gesicht. Mir wurde schlecht. Ich wusste, dass ich sie nicht mehr aufhalten würde. Vielleicht wollte ich das auch gar nicht. Eine tiefe Schuld erfüllte meinen Körper. Angst. Wut. Und gleichzeitig fühlte ich auch eine seltsame Erleichterung. Darüber, dass sie endlich weg war, mich mit ihren Problemen in Ruhe ließ, und ich eine Entscheidung getroffen hatte. Eine Erleichterung, die mich wieder die Schuld spüren ließ, die wie ein unsichtbares Gewicht auf meine Brust drückte. Ich war nicht besser, als die Menschen, die sehen wie ein wehrloser Mensch geschlagen wird, und daran vorbeigehen. Die Menschen, die so tun, als hätten sie nichts gesehen. Genau so war ich. Durch das Fenster sah ich, wie Lara auf ihr Auto zuging. Ihre honigblonden Haare wehten in dem herbstlichen Wind um ihr zartes, eingefallenes Gesicht. Ich sah, wie sie einstieg. Davonfuhr. Ich würde sie nie wieder sehen. Keiner würde es. Niemand würde je wissen, was passiert war. Warum sie es getan hatte.
Keiner wird wissen, dass mein Schweigen sie umgebracht hat.
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