Der Suchendevon Hannah Oppolzer
Lasst mich euch eine Geschichte erzählen:
Ein Mensch geht – so heißt es – spazieren. Er geht über weite Felder, sonnige Pfade, über Brücken und Steine, überquert Berge und Täler, er wandert durch leere Wüsten, durchkreuzt Meere und Seen, Städte und Länder; er umrundet die Erdkugel, geht in alle Himmelsrichtungen. Er ist auf der Suche nach den Menschen.
Auf seinem Weg begegnet er einem Fuchs.
„Guten Tag“, sagt der Fuchs.
„Guten Tag“, sagt der Mensch. „Kannst du mir helfen?“
„Möglicherweise“, antwortet der Fuchs.
„Ich suche die Menschen“, sagt der Mensch. „Ich denke, ich gehe in die richtige Richtung, aber…“
„Ach“, fiel ihm der Fuchs ins Wort. „Menschen denken immer irgendetwas, sie denken hin, sie denken her… aber schlussendlich sind sie genau so intelligent wie davor.“
„Ich verstehe nicht“, erwidert der Mensch.
Der Fuchs umrundet den Menschen und beäugt ihn dabei mit seinen tiefschwarzen Knopfaugen.
„Dadurch, dass ihr so viel denkt und eurem Denken solch große Wichtigkeit beimesst, verursacht ihr viele Probleme, begreift aber nicht, dass eure Denkfähigkeit für das Bewältigen dieser Probleme nicht ausreicht.“
„Probleme?“, fragt der Mensch.
„Solange man Intelligenz nicht vernünftig nutzt, ist sie wertlos“, meint der Fuchs nur.
„Denke darüber nach.“
„Das werde ich tun.“ Der Mensch lüftet seinen Hut zur Verabschiedung und setzt seinen Weg fort.
Nach einiger Zeit begegnet der Mensch einer Elster, die sich auf einem Ast niederlässt und ihr Gefieder zu putzen beginnt.
„Guten Tag“, sagt der Mensch. „Kannst du mir sagen, wo ich die Menschen finden kann?“
„Leider nein“, antwortet die Elster knapp. „Ich bin beschäftigt.“ Und sie fährt fort, ihre Federn zu reinigen.
„Ich wäre dir aber sehr dankbar“, erwidert der Mensch. „Ich kann sie nämlich nirgends sehen.“
„Du kannst Vieles nicht sehen“, sagt die Elster. „Genau wie ich. Wir sehen die Welt nicht und wir sehen uns selbst nicht. Beide tun wir so, als hätten wir wichtige Aufgaben zu erledigen, du suchst die Menschen und ich putze mich. Wir glauben, wir sind die Achse des Universums und begreifen nicht, dass die Erde sich auch ohne uns drehen würde.“
Der Mensch erwidert nichts, er schweigt und das ist auch besser so. In so manchem Schweigen liegt mehr Weisheit, als in so manchen Worten.
„Ich würde die Suche nach den Menschen aufgeben“, meint die Elster und schüttelt ihr Gefieder.
„Ich denke nicht, dass das eine gute Idee wäre“, sagt der Mensch.
Doch die Elster geht nicht auf ihn ein. „Merke dir eines: Wir leben in einem Netz aus Verlogenheit und halten den Schatten für die Wirklichkeit.“
„Interessant“, sagt der Mensch und geht weiter.
Er will seine Suche schon unterbrechen und eine Pause einlegen, als ihm ein Hase über den Weg läuft.
„Guten Tag“, sagt der Mensch. „So laufe doch nicht weg von mir!“, fügt er hinzu, denn das Tier hatte verschreckt begonnen, Haken zu schlagen. „Ich habe nichts Böses im Sinn.“
„Feinde lauern überall“, flüstert der Hase und bleibt dennoch zögerlich stehen.
„Was macht dir denn solche Angst?“, fragt der Mensch.
„Ich wurde vertrieben“, sagt der Hase. „Der Fuchs ist gekommen.“
„Dem Fuchs bin auch ich begegnet“, fällt dem Menschen ein. „Was hast du nun vor?“
„Ich bin ein Suchender“, sagt der Hase. „Ich suche eine neue Heimat.“
„Ich bin auch ein Suchender“, erkennt der Mensch. „Ich suche die Menschen.“
„Oh nein“, sagt der Hase. „Die Menschen suchen immer etwas und wenn sie es nicht finden können oder mit dem Gefundenen nicht zufrieden sind, dann denken sie sich etwas aus.“
„Die Menschen werde ich mir wohl nicht ausdenken müssen“, lacht der Mensch. „Ich bin eigentlich ganz zufrieden mit ihnen.“
„Gewiss“, sagt der Hase. „Wir sind doch alle mit unserer eigenen Art zufrieden.“
„Ich wünsche noch einen schönen Tag“, sagt der Mensch und setzt seine Suche fort.
Seltsam, denkt er bei sich. Obwohl ich um die ganze Welt gegangen bin, habe ich keinen Menschen getroffen. Und er sucht weiter.
Doch er findet sie nicht. Nach einiger Zeit packt ihn die Angst und er wird hektisch, er läuft von Ort zu Ort, er ruft und schreit, doch er erhält niemals eine andere Antwort als sein eigenes Echo, das in den Bergen widerhallt.
Leere Häuser, leere Städte, leere Erde. Keine menschliche Stimme außer seiner eigenen durchbricht die Stille, keine Fußtritte als seine eigenen sind zu hören.
„Wo sind denn alle?“, schreit er panisch und kauert sich am Straßenrand zusammen und weint.
Ein Wolf nähert sich. „Weine nicht“, sagt er. „Denn deine Tränen sind vergebens.“
„Wo sind die Menschen?“, fragt der Mensch. „Bin ich hier ganz alleine?“
„Es gibt schon lange keine Menschen mehr“, sagt der Wolf im Gehen. „Die Menschheit ist vor langer Zeit ausgestorben.“
„Wieso bin ich dann noch hier?“, fragt der Mensch.
Der Wolf bleibt stehen. Seine Augen ruhen auf der gekrümmten, schwachen Gestalt.
„Ach“, sagt er. „Du bist, wie die Menschen über lange Zeit hinweg waren. Du nimmst nur das wahr, was du wahrnehmen möchtest. Du verschließt die Augen vor der Realität. Die Entwicklung dieser Welt und dieses Planeten erschien dir wohl nicht wichtig genug, als dass du deine Einstellungen und dein Handeln überdacht hättest.“
Der Mensch will etwas sagen, doch der Wolf geht bereits weiter.
Plötzlich fühlt sich der Mensch so einsam wie noch nie und schreckliche Angst steigt in ihm auf.
Hals über Kopf stemmt er seinen ausgelaugten Körper hoch, flüchtet weit hinaus auf das Land, auf einen Berg. Klettert ganz oben auf einen überstehenden Felsen, sieht hinab in die tiefe, kantige Schlucht. Ihm wird bewusst, dass es zu spät ist.
Der Mensch wurde besiegt.
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