Der Tod, der das Leben sehen will
Da steht er nun, stramm und dennoch verunsichert, den Blick auf dem steinernen Geländer der Brücke ruhend. Wie oft hat er schon darüber nachgedacht, nahezu spekuliert, was sich wohl alles auf der anderen, auf der hellen Seite verbergen mag. Jeder, der von dieser wundersamen, fremden Seite in sein Reich kommt, berichtet unterschiedliche Dinge. Es soll wohl stimmen, dass keine Kreatur, die sich über diese Brücke in den Schatten hineinbewegt, jenseits der Brücke jemals die gleiche, unvergängliche Macht spürte, welche ihm Tag ein, Tag aus zuteil wird. Jedoch hat jede der Gestalten ihm etwas vermutlich Unersetzbares voraus. Sie alle haben etwas erlebt. Und ihm, der zwar alles weiß und alles beherrscht, bleibt dies verwehrt. Der Tod ist eben nicht dafür da, Dinge zu erleben. Der Tod ist lediglich dafür gemacht, die Seelen dieser für ihn unbekannten Welt in sein abgeschiedenes Reich zu holen. Wer ihn dazu auserkoren hat, das weiß er beim besten Willen selbst nicht. Aber er findet Gefallen an seiner Berufung. Seines Ansehens wegen würde er sie nicht unbedingt vor Anderen eine vergnügliche, freudenreiche Tätigkeit heißen, aber in seinem Innersten weiß er, wie sehr ihn seine Arbeit anspricht. Wäre da bloß nicht dieser unentwegte Drang, das Gesicht der Welt hinter der Brücke kennenzulernen. Und heute ist es so weit. Wie viele Jahre er darauf gewartet hat, kann er nicht sagen. Aber ein Leben lang wäre beim Tod sicherlich die falsche Bezeichnung. Und obwohl ihm der heutige Tag so unbeschreiblich wichtig ist, kann er nicht einmal sagen, er sei früher als sonst für diesen Tag aufgestanden, so wie das die Menschen an wichtigen Terminen tun. Denn der Tod schläft nicht. Nie. Keine Sekunde lang.
Dafür hatte er genug Zeit, sich angemessen zu kleiden. Er will schließlich nicht, dass die Lebenden ihn dort drüben für einen leichenblassen Schatten halten. Seinen besten und einzigen Anzug trägt er, seine Schuhe sind glänzend poliert. Er selbst, ohne eingebildet wirken zu wollen, würde sich im Moment für diese Reise sogar als todschick bezeichnen. Also dann, auf über die alte Brücke, hinein in das faszinierende Fremde! Doch er zögert. Er hat nichts eilfertig entschieden, ewig über diese Reise nachgedacht. Darüber, wer seine Toten vor der Brücke erwarten und abholen wird. Darüber, ob sein Vorhaben überhaupt statthaft ist, er ist schließlich ein gesetzestreuer Tod. Darüber, wie die Menschen auf ihn reagieren werden, und dann noch, wie und ob er überhaupt zurückkommen kann. Er hat jeden dieser Punkte durchdacht und doch ist er nun verunsichert. Müsste nicht gerade er immer todsicher bei jeder Tätigkeit sein?
Nichtsdestotrotz gibt ihm sein innerlichster Wunsch, die Erde und das Leben endlich kennenzulernen, Bestätigung, er weiß, er tut das Richtige. Jede Sekunde, die er jetzt noch zögert, wäre eine Sekunde zu viel. Er dreht sich um, womöglich zum letzten Mal, um das Nichts auf seiner Seite der Brücke zu sehen und besteigt dann geräuschlos die schweren Steinstufen in das Leben.
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