Der Trank
Stampf, stampf, stampf. Ein Schweißtropfen kullert die Wange hinunter. Erster Stock. Zweiter Stock. Mit keuchender Stimme sage ich: „Nur noch die Wendeltreppe“. Stampf, stampf, stampf. Kälte ergreift meinen Körper, ein Schauer läuft über meine Wirbelsäule.
Die Erbarmungslosigkeit des Gesteins lässt mich glauben, dass ich auf der Stelle erfriere.
Mit zittrigen Schritten nehme ich Stufe für Stufe.
Als wäre die Herbstfrische nicht genug, wirbelt ein Luftzug meine Haare auf. Mit Blitzgeschwindigkeit schließe ich das Fenster. „Wer zur Hölle lässt das Fenster bei diesen Temperaturen offen?“, denke ich grimmig. Jedoch kitzeln die weichen Sonnenstrahlen meine Nase. Dadurch bleibe ich wie gefesselt stehen, und wage einen Blick in die mystische Landschaft. Wiesen, Wälder und Äcker sind überzogen von dem durch die Abendröte gefärbten Nebelschleier. Nur von dem Anblick spüre ich die Feuchtigkeit der Luft. Rot, Gelb und Braun sind die Kleider der tausend Bäume. Die Sonne schickt ihren letzten Schein, ehe die Nacht anbricht.
Schnell zünde ich meine Öllampe an, und merke, dass ich mich sputen soll. Stampf, stampf, stampf. Halt. Tür. Braun, mit großen ringartigen Türgriffen. Erst jetzt merke ich, dass ich nach Kälteschweiß rieche, einem der schlimmsten Gerüche, die ein Mensch produzieren kann. Faule Eier, mit Essig und Salz. Angewidert warte ich bis ich aufhöre zu hyperventilieren. Meine zittrige Hand ergreift den kalten Ring und öffne die Tür.
Kaum habe ich sie geöffnet, übernimmt ein ganz anderer Duft. Es ist zu viel. Zu viele Gerüche, die eine Wolke bilden. Ich kann nicht identifizieren, wonach es riecht. Hell. Blinzelnd gehe ich rein.
Der ganze Raum ist voll mit kleinen Fläschchen und deren Inhalte haben jede Farbe, die es gibt. „Ich wünschte er wäre da, dann würde das Suchen schneller gehen“, sage ich. Grübelnd frage ich mich: „Welche Farbe? Der Inhalt gestern war so ein rötliches Ocker… Ich wünschte, ich könnte lesen.“ Magenta, Aquamarin, Creme, Türkis, Violett, Khaki… Ocker-rot!
Das Fläschchen ist ungefähr so groß wie mein Ringfinger. Versiegelt mit einem Korken. Ein Zettel ist mit einer Schnur daran befestigt. Ich sehe: „Zukunftszauber, nur in kleiner Dosis zu nehmen“, was das bedeutet, weiß ich nicht. Ich denke: „Egal, wird schon das Richtige sein.“
Wie gewohnt entleere ich die Medizin in meinen Magen. Gleich darauf fühle ich mich schlapp und müde. Ich blicke in Richtung meiner Arme. Muskelmasse schwindet. Altersflecken entstehen. Meine Hand streicht über meine Haut. Sie ist rau und trocken. Ich schreite näher zum Fenster, um mich in der Spiegelung zu sehen. Ich kann nicht glauben, was ich sehe. „Wer ist das?“. Erschrocken trete ich einen Schritt zurück. Das Spiegelbild auch. „Oh mein Gott, das bin ja ich!“, schreie ich aufzuckend. Ich bekomme immer mehr weiße Haare. Falten verbreiten sich wie Feuer bei einem Waldbrand. Meine Sicht ist verschwommen wie noch nie. Schwach, schwer, einsam und leer, so leer. „Wo bin ich?“
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