Der Traum vom Leben
Es ist alles schon bestimmt. Und alles schon geschrieben. Der Ursprung allen Lebens. Und ich weiß, wer ich bin.
Ich bin ein Mensch, ein ganz besonderer, ich bin ich und freue mich auf mein Leben. Das alles ist die Wahrheit.
Ich werde dichtes, dunkles Haar haben. Und Augen fast ganz schwarz, wie die meines Vaters. Eine winzig kleine Nasenspitze werde ich haben, so wie meine liebe Mama, die mich in sich trägt. Das ist alles schon bestimmt.
Ich werde die Kunst lieben und die Musik. Ich werde früh Klavier spielen, mich von Tönen wie auf Wolken davon tragen lassen und wunderschön malen können. Es ist alles schon geschrieben.
Man nennt mich oft nur „Zellhaufen“ oder „unfertiges Ding“. Aber ich bin menschlich. Ich bin echt. Ich lebe mit und durch meine Mama. Das ist alles die Wahrheit. Meine Zukunft, meine Träume, die Musik und die Kunst. Das ist alles die Wahrheit. Mein Gesicht und meine Hände, mein Herz, das schon schlägt. Das alles ist die Wahrheit.
Und so darf ich hier sein und auf mein Leben warten. Ganz echt. Ich freue mich und ich habe Angst. Ich weiß nicht, was auf mich zukommen wird, aber ich weiß, dass jemand da sein wird, der mich beschützt. Vielleicht wird mir Böses widerfahren, aber jemand wird mich trösten.
Ich werde die Geborgenheit lieben. Ich werde es lieben in den Arm genommen zu werden. Es wird schön sein abends am Schoß meiner Mutter einzuschlafen. Und in der großen Stadt die Hand meines Vaters ganz fest zu halten. Ich werde nicht allein sein.
Und so freue ich mich auf mein Leben. Es wird wunderschön sein. Das weiß ich. Und das alles ist die Wahrheit.
Doch plötzlich wird die Wahrheit zur Lüge. Meine Freude vergeht. Ich werde nicht leben.
Ich erlebe die schrecklichsten Schmerzen, die ich mir nie hätte ausmalen können. Es zieht mich nach unten, es tut weh, so weh. Es schmerzt überall. In meinen Händen, in meinen kleinen Gesicht. In meinen kleinen Herzchen, dem sie das Schlagen austreiben wollen.
Meine Mama liegt irgendwo da draußen, macht die Beine breit und lässt das alles zu. Warum steht sie nicht auf? Warum läuft sie nicht weg? Warum beschützt sie mich nicht? Mama? Hast du mich denn nicht lieb?
Von diesen Schmerzen gelähmt zieht es mich weiter nach unten. Immer weiter. Ich kann nichts tun. Es wird kalt, eisig kalt. Ich bin nicht mehr da, wo ich hingehöre.
In Elend und Kälte erfroren und erstochen, hört mein kleines Herzchen auf zu schlagen.
Ich starb durch den Willen meiner Mutter. Ich starb durch den Willen meines Vaters. Ich starb durch den Willen aller Ärzte, die mich nicht leben lassen wollten.
Der Traum vom Leben ist zu Ende. Es wird keine Kunst geben und keine Musik. Es wird niemand da sein der mich beschützt. Es wird keine Geborgenheit geben. Zu mir sagte man nur: Wir haben genug von dir!
Meine geliebten Eltern – habe ich das verdient?
War ich wirklich so schlecht, das ich es nicht verdient habe einmal meine Augen zu öffnen?
Ich frage alle Menschen, dieser Welt: Habe ich dieses Elend wirklich verdient?
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