Der Traumweber
In Nachtschatten gehüllt, wo Gedanken schweben, entwirrt er die Fäden, die Träume verweben.
Der Mann am Fenster, dessen Namen ihr euch in dieser Stunde selbst ausdenken könnt, ließ den Blick über die schlafende Stadt gleiten. Er spürte, wie ihn die Last der Nacht langsam zu Grunde machte. Seine Aufgabe, die Fäden zu entwirren, die die Träume der Stadt verweben, hatte ihn erschöpft. Dieses unsichtbare Netz, das die Menschen vor dem hastigen Lärm des Tages schützte, war ihm zur unerträglichen Bürde geworden. Doch es war jene magische Zeit, in der die Welt noch zu atmen schien, ohne die hastige Lunge des Tages. Er spürte das unerbittliche Pochen, das unter der Oberfläche der vermeintlichen Ruhe lauerte. Er nahm es wahr im kaum hörbaren Vibrieren des Bodens unter seinen Füßen, das von den ersten U-Bahnen herrührte, die sich bereits durch die Adern der Stadt zwängten.
Jeder Traum, den die Nacht gesponnen hatte, war ein fragiles Gewebe, das mit dem ersten Sonnenstrahl zu zerreißen drohte. Und mit ihm die Illusion der Langsamkeit. Er wusste, dass bald das wahre Tempo einsetzen würde – nicht nur das der Uhren und Terminkalender, sondern das innere Tempo, das die Menschen antrieb, ihre Schritte beschleunigte, ihre Worte überstürzte und ihre Gedanken in einen undurchdringlichen Nebel hüllte. Es war das unsichtbare Orchester, das den Takt des Alltags angab.
Er erinnerte sich an die Worte seines Großvaters, eines Uhrmachers, der sein Leben lang die Mechanik der Zeit studiert hatte: "Das wahre Tempo, mein Junge, ist nicht das, was du auf dem Zifferblatt siehst. Es ist der Rhythmus deines Herzens, der Tanz deiner Gedanken und das unhörbare Lied der Welt, das dich vorwärts treibt, ob du willst oder nicht. "
Der Mann am Fenster schloss die Augen und lauschte. Er lauschte nicht dem Geräusch, sondern dem Gefühl. Dem Gefühl, wie die Nacht ihren Griff lockerte und wie ein unsichtbarer Dirigent den Takt für den kommenden Tag erhöhte. In ihm selbst begann etwas zu summen, ein leises Rauschen, das bald zu einem dröhnenden Chor anschwellen würde. Es war das Tempo des Lebens, das ihn rief, das ihn forderte, das ihn unaufhaltsam in den neuen Tag zog.
Mit dem ersten, zarten Schleier von Rosa am Horizont öffnete er die Augen. Die Stadt erwachte, nicht mit einem Paukenschlag, sondern mit einem millionenfachen Seufzen, einem Knistern, das sich langsam zum Rauschen steigerte. Die Lichter der Laternen erloschen, eines nach dem anderen, als ob die Menschen ihre inneren Flammen nun nach außen trugen. Er atmete tief ein, diesen frischen, noch kühlen Hauch von Neubeginn, der auch von Abgasen und dem Geruch von frischem Kaffee mit sich trug. Er war ein Teil dieses sich beschleunigenden Ganzen, ein Zahnrad in einem Uhrwerk, das eben erst zu voller Bewegung ansetzte.
Und so wartete er, bis sich alles abermals in Nachtschatten hüllte, wo Gedanken schweben, da entwirrt er wieder die Fäden, die Träume verweben.
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