Der Wanderer
Es war nicht immer so.
Vielleicht war es immer so, und ich habe es nie bemerkt, aber ich denke, es war nicht immer so.
Es ist Sommer; die Zeit, wenn der Fluss schrumpft und seine schlammig schwarzen Ufer zurücklässt, wenn dunkle, saftige Wälder im Sturm gebeutelt werden, um dann in der Sonne zu dampfen; die Krähen mästen sich auf rissigen Straßen von stinkendem Müll.
Es ist Sommer, und ich frage mich, ob es immer so war. Ob die Tage immer schon so heiß waren, ob das Wasser immer schon so tief war, ob ich immer schon so viel Angst hatte, oder ob sie sich erst unlängst eingeschlichen hat, wie ein nie eingeladener Gast, der sich nun weigert, zu gehen.
Ich gehe die Straße entlang; noch bin ich nicht weit gekommen. Noch könnte ich umkehren.
Nein: man sollte glauben, dass ich es könnte, aber meine Füße lenken mich jetzt von allein; ich kann, wo ich hingehe, ebenso wenig steuern wie das, was auf mich zukommt.
Manchmal versuche ich mir einzureden, ich wüsste nicht, wovor ich weglaufe. Das heißt, manchmal belüge ich mich. Ich laufe vor der Zeit weg.
Mein Weg führt mich in den Wald, in das kühle Grün der Baumfarne, von Ranken und Reben zu einem undurchdringlichen Dickicht versponnen. Im Halbdunkel sehe ich die Gesichter der Geister, die mich begleiten, höre ihr Flüstern im Raunen der Blätter und versuche vergeblich, sie zu verstehen.
Ich denke, es kommt im Leben eines jeden der Zeitpunkt, an dem man seine Kindheit begraben muss. Manche bereiten sich vor auf das, was kommt, manche versuchen zu vergessen, dass etwas kommt, manche sterben, sodass nichts kommen kann – und manche laufen.
Ich laufe. Denn vielleicht holt mich die Zeit nicht ein, wenn ich nur schnell genug bin.
Bald endet der Wald. Die Sonne brennt wieder auf mich herab; irgendwo in meiner Nähe rauscht das Meer.
Der Sommer ist verflogen; der Herbst färbt die Blätter Kupfer, die Nächte werden frostig und Rauch steigt aus den Schornsteinen.
Ich weiß nicht, wo ich bin, und wer ich bin noch weniger.
Aber inzwischen weiß ich, dass ich vergeblich laufe. Man kann seine Zukunft verdrängen, man kann sie aufschieben, aber man kann ihr Kommen nicht verhindern.
Ich erkenne, dass ich auf diesen Moment gewartet habe, nicht nur aus Angst, sondern auch aus Hoffnung gelaufen bin: aus der Hoffnung, dass mir der Weg das Ziel zeigen würde. Dass ich mich im Spiegel nicht wiedererkennen würde, dass mich meine Reise zu dem machen würde, wozu ich bestimmt bin.
Aber ich erkenne mich wieder. Kein Ziel offenbart sich. Und vielleicht ist genau das in sich eine Offenbarung: ich kann bis zum Ende der Welt wandern, alle fremden Städte der Welt bereisen, aber am Ende bin ich selbst das Einzige, das mir bleibt. Meinem Spiegelbild entkomme ich nicht. Mir selbst entkomme ich nicht.
Ich lächle leise. Und wandere weiter.
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