Der Welt Verloren
Wir sagten, wir würden laufen. Alles hinter uns lassen, niemals zurückblicken, die kalte Luft in unseren Lungen, der Waldboden unter unseren Füßen.
Wir sagten, wir würden es niemandem erzählen, verschwinden, ohne dass es jemand bemerkte. Wir meinten, wir könnten uns davonmachen, wir dachten, wir könnten zur Winterluft werden, zum toten Laub auf der Erde, zum eisklaren Wasser der Gebirgsbäche, zum Sand in der Wüste, zum heulenden Wind auf den Wiesen.
Stattdessen stehe ich hier; es fröstelt mich in der Kälte. Meine durchnässte Kleidung liegt mir schwer am Körper, meine Haare tropfen. Der Regen verwischt die Farben der Stadt; die Straßen werden zu Ölgemälden, die Tropfen zum Pinsel.
Autos brausen vorbei; ihre Lichter spiegeln sich auf dem nassen Asphalt, und das Rot der Ampeln vermischt sich mit dem Schwarz des Nachthimmels. Ich sehe keine Menschen; ich sehe Gestalten, im Regen gebückt, gesichtslos unter ihren Schirmen.
Ich warte. Und warte.
Der Mond zieht über den Nachthimmel; der Regen wird stärker, die Straßen leerer.
Du wirst nicht kommen.
Ich lasse mich auf den Randstein fallen. Tränen mischen sich mit dem Regen.
Ich weiß, du glaubst nicht daran, du willst bleiben; du hast unseren Teil des Universums aufgeben.
Und nun? Was bleibt mir noch? Der Stein in den Straßen, die Wolken im Himmel, der Regen auf den Dächern. Nichts außer dem Handfesten, dem Sichtbaren, nichts außer der wahren Welt um mich herum. Mit dir sah ich alles wie vom Boden eines Teichs; ich sah das Gold in den Sonnenstrahlen, wo es sonst nicht war, ich sah den verschwommenen Sommerhimmel, der mir sonst gleichgültig war.
Unser Teil des Universums ist verloren. Und im heulenden Sturm der Nacht bin auch ich der Welt verloren.
***
Ich weiß nicht, wie viele Jahre vergangen sind, wie oft ich geweint, wie oft ich gelacht habe.
Das Wasser in unserem Teich ist nicht mehr grün, nicht mehr klar und angenehm kühl, wie es einst war. Wie geschmolzenes Blei liegt er auf der Lichtung. Ich sitze auf unserem Steg, regungslos.
Einst saßen wir hier. Wir meinten, das Schimmern ferner Städte zu sehen, das Meer zu riechen; wir dachten, Musik aus den Wäldern zu hören.
Hinter mir knarrt der Steg; ich beachte es nicht. An die Geister meiner Erinnerung bin ich gewöhnt. Mit ihnen habe ich Frieden geschlossen.
Ich blicke auf eine kleine Wasserlache, die sich am Rand des Steges gesammelt hat. Im silbergrauen Wasser sehe ich dein Gesicht, besorgter, von der Zeit gezeichnet, aber es bist du. Unverwechselbar du.
Ich stehe auf, drehe mich um und sehe dich an.
Und wir laufen.
Die kalte Luft füllt unsere Lungen, der Nadelteppich des Waldes ist weich unter unseren Füßen. Wir sind die Winterluft, das Wasser in den Bächen, der Sand in den Wüsten, der heulende Wind auf den Wiesen.
Aber mehr als alles andere sind wir Menschen, unter dem offenen Gewölbe des Himmels, in den einsamen Weiten unserer Welt. Wir gehören dem Universum, und das Universum gehört uns.
Und so laufen wir. So wie wir es immer gesagt haben.
Wir danken unseren Unterstützern
Mit Unterstützung folgender Wiener Bezirke:
Für Sponsoringanfragen wenden Sie sich bitte an Margit Riepl unter margit.riepl@gmx.at
Wenn Sie "Texte. Preis für junge Literatur" unterstützen möchten, spenden Sie bitte auf folgendes Konto:
Literarische Bühnen Wien, Erste Bank IBAN: AT402011182818710800, SWIFT: GIBAATWWXXX