Der Zauber des Augenblicks
Weshalb ist die Gegenwart so kurz? Die Vergangenheit wird immer länger, die Zukunft erstreckt sich in das Unendliche, aber die Gegenwart, so minimal, dass man sie kaum spürt. Wie das zarte Flattern der Flügel eines Schmetterlings. Das Suchen des „Jetzt“ gleicht dem Fangen eines Grashüpfers auf einer wild bewachsenen Wiese oder Schnee an Sommertagen. Ein Ding der Unmöglichkeit. Trotzdem sehnen wir uns danach und suchen verzweifelt, wie nach einem verlorenen Teil eines Puzzles. Tag für Tag. Monat für Monat. Jahr für Jahr.
Genau diese Gedanken gingen dem Mädchen durch den Kopf und ließen es nicht los. Warum ist es praktisch unmöglich in der Gegenwart zu leben? Was wenn es etwas erfand, das genau das möglich machte? Im „Jetzt“ zu leben, macht doch bekanntlich glücklich, weswegen sollte es der Menschheit verwehrt bleiben?
Am selben Tag erfand das Mädchen eine unscheinbare Maschine, taufte sie den „Augenblick“ und begann sie an Menschen zu testen. Aber was konnte die Erfindung? - Man konnte im „Jetzt“ leben. Man konnte an nichts anderes denken als an den Moment, in dem man sich gerade befand und man konnte den Moment auch ausdehnen. So lange wie man wollte, denn man lebte ja im „Jetzt“.
Das Mädchen beobachtete jede Reaktion der getesteten Personen: Wie die Menschen auf den „Augenblick“ reagierten, wie sie damit umgingen und was es mit ihnen machte. Die Kleine war sich vollkommen sicher gewesen, dass es ein Erfolg werden würde. Aber das Endergebnis konnte es nicht mehr erschüttern. Das Mädchen war zertrümmert. Am Boden zerstört. Denn das Problem war, dass der „Augenblick“, genauso wie das Mädchen es vorausgesehen hatte, ein voller Erfolg war. Aber keineswegs, so wie es sich es erhofft und erwünscht und erträumt hatte. Denn der „Augenblick“ ließ die Menschen vergessen, ließ die Menschen unsinnig werden und ließ die Menschen vollkommen irrational denken lassen. Sie waren nicht länger an der Vergangenheit, an der Geschichte und an ihren begangenen Fehlern interessiert. Genauso wenig, wie an der Zukunft, ihren Träumen und Zielen. Sie lebten in dem Moment, genossen ihn zutiefst, aber hatten nichts davon. Hatte das Mädchen das gewollt? Nein, nein, nicht in dem Ausmaß.
Da war der Kleinen einiges klar geworden. Das wichtigste von alledem war gewiss, dass diese Erfindung, dieses Monstrum, dieser „Augenblick“ niemals, unter keinen Umständen, an die Öffentlichkeit geraten durfte.
Kurzerhand zerstörte die Kleine die Maschine. Zertrümmert lag sie vor dem Mädchen. Und das Mädchen? Es konnte nicht unbekümmerter sein. Denn das „Jetzt“ kann man weder sehen noch hören noch fühlen. Im Augenblick kann man sich nur befinden, wenn man an nichts anderes denkt. Nur für diesen einen kleinen Moment. Selbst wenn es nur ein kleiner Moment ist, ist er von unglaublich großer Kostbarkeit. Und in diesen kleinen Augenblick muss man sich selbst hineinversetzen. Nicht mithilfe einer Maschine und nicht durch jemand anderen. Es muss von einem selbst kommen.
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