Die Abfindung
„Ich habe lang genug mitangesehen, wie Sie unsere Institution durch Ihr unüberlegtes Handeln in Mitleidenschaft gezogen haben. Nun ist der Zeitpunkt gekommen, an dem ich die Konsequenzen ziehen muss. Herr S. ich muss Ihnen mitteilen, dass Sie für unseren Verband nicht den nötigen Arbeitsaufwand gebracht haben. Sie haben schlicht und einfach nicht genug gegeben. An dieser Stelle könnte ich Ihnen genug Gründe anführen, warum Sie den Vorstellungen unseres Verbands nicht gerecht wurden und wir eine fristlose Entlassung für gerechtfertigt halten, doch diese Peinlichkeit möchte ich Ihnen zum Wohl Ihres Selbstwertgefühles ersparen. Auch wenn es für Sie vielleicht den Anschein hatte, dass Sie ein unentbehrlicher Mitarbeiter unserer Rechtsabteilung waren, möchte ich Sie doch aus dieser Illusion befreien. Ich möchte Ihnen mitgeben, dass ein Arbeiter, der denkt, genug zu geben, immer ungenügend sein wird, denn es können nie genug Bemühungen angestellt werden. Denken Sie bitte an diese Worte, wenn Sie sich ernsthaft entscheiden wollen, einem Ziel nachzugehen. Doch bei Ihrer genügsamen Gesinnung erwarte ich mir ohnehin keine große Zukunft mehr für Sie, mein Bedauern. Ihre Kontrahenten auf dem Arbeitsmarkt wird es mit Genugtuung erfüllen, dass der verantwortungsvolle Posten unserer namhaften Institution nicht mehr durch einen minder qualifizierten Bänker besetzt ist. Ich darf Sie nun ersuchen unsere Räumlichkeiten zu verlassen.“
Für Erich war dieser 8. Jänner ein unvergesslicher Tag. Wie jeden Morgen wartete der Taxi Lenker in seinem alten Mercedes-Benz 190 E vor den imposanten Toren eines Altbaus in der Döblinger Hauptstraße. Von dort holt er seit geraumer Zeit Herrn S. ab und bringt ihn auf schnellstem Weg zu seiner Arbeit, einer namhaften Institution. Während der Fahrt hatte Herr S. nie genug Zeit mit Erich eine tiefergehende Konversationen zu führen. Erich erinnert sich, dass er immer beschäftigt war Telefonate abzuhalten, Mails zu beantworten oder Vorträge einzustudieren. Trotzdem spürte Erich eine Verbundenheit zu Herrn S. . Nach den vielen Jahren war Herr S. nicht mehr nur ein Fahrgast für ihn, er war Teil seines Lebens. Ebenso war es fester Bestandteil von Erichs Leben, Herrn S. von der Arbeit abzuholen. Am Nachmittag des 8. Jänners wirkte Herr S. unscheinbar verändert. Erich bemerkte diesen Unterschied am Gemüt seines Fahrgastes, hatte jedoch nicht genug Mut Herrn S. darauf anzusprechen. Als Erich seinen Wagen vorm Haus seines Wegbegleiters hielt, sah er Schmerz in dessen Augen. Doch Herr S. , sichtlich berührt, verabschiedete sich nur rasch und vereinbarte mit Erich ein Taxi für den kommenden Tag.
Zur ausgemachten Zeit wartete Erich vor dem Haus seines Mitfahrers, mit dem Vorsatz ihn auf den Auslöser seiner gestrigen Emotionen anzusprechen. Erich wusste noch nicht, dass er dazu nicht mehr die Gelegenheit bekommen würde, denn Herr S. war sich selbst nicht mehr genug. Er hatte vom Leben genug.
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