Die Angst, nicht mutig genug zu sein
Nervös wischte sich Kye die schweißnassen Hände an der Jogginghose ab. Was hatte er sich nur dabei gedacht? Gar nichts – das war ihm im Nachhinein klar geworden. Kopflos zu handeln war normalerweise gar nicht seine Art, doch diesmal hatte er sich nicht gegen seine Freunde wehren können.
Freunde… waren sie denn überhaupt seine Freunde? Die drei Burschen, die jetzt auf der anderen Seite des Zaunes standen und ihn breit angrinsten? Drängend deuteten sie auf das verfallene Haus, auf dessen Grundstück er nun stand. Die Erde war trocken, die Pflanzen schon seit langer Zeit verdorrt. Scherben von alten Bierflaschen lagen am Boden verstreut und im kleinen Pool schwamm alles Mögliche herum – Kye wollte sich gar nicht vorstellen, was da alles drin war. Er warf seiner Clique noch einen unsicheren Blick aus seinen grünen Augen zu. Die Teenager riefen ihm zu, er solle sich beeilen.
„Komm schon, Kye! Oder bist du zu feige? !“ Hohn und Gehässigkeit schwang in den Worten mit. Ihm hätte klar sein müssen, dass es ihnen nie um ihn als Person ging. Anfangs hatten sie ihn ebenso ignoriert, wie jeder andere. Bis sie ihnen klar wurde, dass er eine Art Goldgrube war, nur, dass er kein Gold spuckte sondern gute Noten.
Und was war besser, als einen Streber in der Klasse zu haben, bei dem man abschreiben konnte, während man seine eigenen grauen Gehirnzellen nicht anzustrengen brauchte?
Genau das hatte ihn letztendlich dazu gebracht, seinen „Freunden“ zuzustimmen und sich auf dieses hirnrissige Vorhaben einzulassen. Er wollte mutig sein, er wollte endlich beweisen, dass er mehr konnte, als nur gut in der Schule zu sein! Man konnte mit ihm Spaß haben, doch offensichtlich hatten sie unterschiedliche Vorstellungen davon, was im angemessenen Bereich des Spaßhabens lag.
Mit wild klopfendem Herzen stolperte der Braunhaarige also in das zerfallene Gebäude. Seine Knie waren weich und die kalten Finger zitterten. Vor einer halben Stunde stand sein Körper noch unter aufgeregter Spannung, er hatte übermütig gegrinst und verspürte eine gewisse Vorfreude darauf, endlich zeigen zu können, dass kein Spießer in ihm steckte.
Das hatte ihn nun in diese leidliche Situation gebracht. Doch er konnte jetzt nicht mehr umkehren, dafür war es zu spät. Er hatte den ersten Schritt gemacht und er würde es auch zu Ende führen. Kye atmete tief durch und betrat den ersten Raum.
Kaum 10 Minuten später schallte ein markerschütternder Schrei durch die Straßen. Kurz darauf kam aus dem Gebäude ein blutüberströmter Bursche herausgestolpert und warf sich mit letzter Kraft über den Zaun, bevor er auf der anderen Seite schmerzhaft auf dem Asphalt aufschlug. Die drei Jungs waren längst verschwunden - sie hatten ihn im Stich gelassen.
Und während Kye am Boden lag, ertönte ein ohrenbetäubendes Krachen und das gesamte Gebäude brach mit gewaltigem Getöse in sich zusammen. Die Erde erbebte und die Staubwolke breitete sich aus, bis sie alles um sich herum verschlang und der verletzte Junge in der staubigen Masse unterging.
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