Die Überlebende
Während die U-Bahn immer schneller wurde, sah Tamara aus dem ihr gegenüberliegenden Fenster und sah zu, wie die Betonwand dahinter monoton vorbeizog. Sie war wie immer zu spät, und die New Yorker Lexington Avenue Linie der U-Bahn war auch wie immer fast unerträglich laut. Sie seufzte und lehnte ihren Kopf gegen das Glas hinter ihr. Als ihre Station an der Reihe war, begann sie sofort zu sprinten. Wahrscheinlich bemerkte sie es deshalb so spät, dass die U-Bahn-Station so ungewohnt wirkte. Als sie auf der Treppe das erste Mal aufsah, stolperte sie fast über die oberste Stufe. Verwirrt fuhr sie herum um blickte ungläubig auf das Stationsschild. Es sah anders aus als sonst, aber auf dem Schild stand immer noch genau dasselbe: „Lexington Av – 51 St“. Tamara sah sich jetzt genauer um. Die Station schien denselben Aufbau zu haben, aber sie war viel heller, die Wände waren leuchtend-weiß anstelle des sonstigen grau-schwarzen Betons, sie schienen zu glänzen, der Boden war ein helles, sauberes Grau, genau wie die Decke, welche auf einmal viel höher erschien als gewohnt. Die Ticket-Automaten waren weg, stattdessen waren überall große schwarze Monitore. Nun bemerkte Tamara auch, dass die Station menschenleer war. Da waren überall Absperrungen, mehr als sonst, und weitere Monitore. Als Tamara an einem von ihnen vorbei wollte, leuchtete er blau auf und verlangte einen Ausweis von ihr. Sie holte ihre U-Bahn Karte heraus, aber der Monitor registrierte sie nicht. Kurz entschlossen ging sie in die Knie und schlüpfte unter der Absperrung hindurch. In wenigen Schritten betrat sie die Straße, und sofort merkte sie, wie heiß es war. Sie hätte schwören können, dass es vor einer ViertesStunde noch wesentlich kälter gewesen war. Sie schaute sich um. Überall waren Leute, die es offenbar alle sehr eilig hatten und sie gar nicht beachteten. Die Straße war ihr vertraut, aber die Gebäude waren nicht wiederzuerkennen. Sie waren heller, höher, anders gebaut und hatten teilweise riesige Monitore eingebaut. Über den Straßen befand sich eine einzelne metallene Schiene, die direkt über Tamaras Kopf verlief, und auf der nun eine Art rundliche, plattgedrückte Gondel entlangglitt. Vollkommen verwirrt versuchte Tamara, einen der weniger beschäftigt aussehenden Passanten anzusprechen, doch die Person reagierte gar nicht auf sie. Sie drehte sich um und wollte gerade jemand anderen ansprechen, da kam plötzlich eine Frau direkt auf sie zu und – ging geradewegs durch sie hindurch. Erschrocken kam Tamara aus dem Gleichgewicht und taumelte direkt durch eine Gruppe Menschen hindurch, die sie anscheinend weder sahen noch spüren konnten. Sie versuchte mit ihnen zu sprechen, doch sie reagierten auch darauf nicht.
NEW YORK TIMES – 19. September 2122
Heute vor 100 Jahren – Erinnerung and das Unglück Entgleisung der U-Bahn Linie Lexington Av
Am 19. September 2022 entgleiste kurz vor der Station „Lexington Av – 51 St“ ein Zug der grünen Linie. Bei dem Unglück kamen 268 Passagiere ums Leben.
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