Die Deutschschularbeit
Ich verlasse die Wohnungstüre und mache langsame nachdenkliche Schritte auf dem steinigen Asphalt. Sanfter Frühlingsduft steigt mir in die Nase. Dann halte ich mitten in meiner Bewegung inne und denke nach. Was soll ich denn jetzt machen? Die Schule schwänzen? Eine 5 in meiner heutigen Deutschschularbeit riskieren? Nein, so ein Mensch bin ich nicht! Ich überlege noch einmal kurz und entscheide mich, den Weg zur Schule fortzusetzten, wobei ständig diese Unmut in mir aufsteigt, mich gefangen nimmt, mich einfach nicht loslässt.
Einige Meter von mir entfernt, an der Bushaltestelle, registriere ich eine ältere Frau mit grauem Haar, die sich an ihrem Rollator gebückt mit einem jungen Mann in einem schwarzen Jogging-Anzug unterhält. Ihre braune altmodische Tasche baumelt an ihrem Rollator. Ich beobachte, wie dieser Mann der alten Dame etwas sagt, worauf sie nur hastig den Kopf schüttelt. Dann zerrt er an ihrem zarten faltigen Handgelenk und brüllt sie an. In diesem Moment biegt mein Bus, der mich Richtung Schule fahren sollte, um die Ecke. Was jetzt? Aber ohne lange nachzudenken, fasse ich meinen ganzen Mut zusammen und gehe mit hastigen Schritten auf das Geschehen zu. Mut, habe ich sie? Und, was ist Mut überhaupt? Zweifel und eine unendliche Gedankenschleife halten mich gefangen. Ich fange an zu schwitzen.
Mittlerweile hält der Mann die alte Frau an beiden Handgelenken fest, woraufhin sie angstvoll zu zittern beginnt. Wie ferngesteuert werden meine Schritte schneller und immer schneller. Soll ich es wirklich wagen? Ja! Sei mutig! Trotz meiner höllischen Angst bewege ich mich immer mehr auf diesen mächtigen Mann zu. Dann tu ich es! Ich reiße ihn von der kleinen alten Frau weg. Voller Wucht fällt der Kriminelle auf den kieseligen Asphalt. Seine Knie und Ellenbogen sind von Schürfwunden übersät. Dann ermahne ich ihn, die alte Dame in Ruhe zu lassen und drohe mit der Polizei. War ich etwa mutiger gewesen als der Mann? Erschrocken hält sich die Frau die angeschwollenen Hände vor ihren roten Mund. Doch der auf dem Boden Hockende würdigt mich keines Blickes, stattdessen scheint dieser die Frau am Rollator kurz höhnisch anzugrinsen. Dann überlegt er kurz, rappelt sich wieder auf und reißt der armen Alten plötzlich die braune Tasche vom Rollator. Die Dame bricht in Tränen aus. Ohne noch mehr kostbare Zeit zu schinden, krame ich in meinem Schulrucksack nach meinem Smartphone und wähle den Polizeinotruf. Dieses Mal ohne zu überlegen, ob ich dafür überhaupt mutig genug sei. Ich beschließe noch ein wenig bei der verängstigten Frau zu bleiben. Denn meinen Bus hatte ich ja schon verpasst. Die Frau nimmt mein Taschentuch entgegen und drückt dankend meine rechte Hand.
Nach der Vernehmung durch die Polizei setze ich mich in meinen Bus und fahre zur Schule, zur schrecklichen Deutschschularbeit, auf die ich anfangs verzichten wollte. Aber jetzt weiß ich immerhin, wovon meine Erzählung handeln wird. Das Fahrzeug fährt rumplig los und ich übermütig mit.
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