Die Diagnose
Die römischen Chiffren auf dem Antlitz der Quarzuhr glichen sich über die Jahre der verblassenden Gipsfarbe der Wände in der Notaufnahme an. Es war 23 Uhr 17. Vermutlich. „Diagnose? Diagnose? !“ In den Gängen hing der Gestank von Desinfektionsmittel und Wundversorgung, der in den Augen brannte, wie die Sommersonne oder giftiges Gas.
„Diagnose? ! Diagnose? ! !“ Schwester Bärbel rief schon seit geraumer Zeit in einen schneidenden Diskant verfallend um sich. Um (vermutlich) 22 Uhr 26 waren drei Ärzte mit einem Notfallpatienten in Behandlungszimmer 3 verschwunden. Keine Störungen, hieß es. Mal was anderes, hieß es. Seitdem wartete sie gierig darauf, die Diagnose in die vergilbte Tastatur zu hämmern, ehe sie die Klinikbaracke verlassen würde. B-A-R-A-C-K-E. Ihr braunes Haar mit den verbandmullweißen Strähnen war streng hochgesteckt. Es roch nach Anti-Schuppen-Spülung, Antiseptikum und ihrem liebsten Drogerieparfum. Einem Verschnitt aus 4711 und Schmierseife. Sie kaute auf einem roten Bleistift der Kinderkrebshilfe. Ihre Eckzähne bissen Krater in das morsche Holz und das Purpurrot splitterte ab. Verschwand. Die Farbsplitter fühlten sich wohl auf ihren Zähnen. Neben den Lippenstiftresten.
Fragende Blicke drangen aus Behandlungszimmer 3 auf die Gänge und über Schwester Bärbels Brille auf die Uhr, die sich zu schämen schien. Die knöchernen Zeiger flüsterten 23 Uhr 43. Vermutlich. Die Furchen unter Bärbels Augen wurden zu tiefen Gräben, in denen sich Schweiß und Make-up vereinten.
Über die Gänge tänzelte eine Reinigungskraft. Reinigungskraft. Nicht Newton, sondern Isabella brannte sich mit Säuren und Basen eine Spur in das sterile Krankenhausparkett. Die Seuchen der Welt eingefangen in feuchten Tüchern. Mühsam blies sie sich die schweißnassen Haare aus dem Gesicht um die Sicht zu klären. Auf Schwester Bärbel.
Die tippte ungeduldig mit ihren Fingerkuppen auf den Tisch. Ein nervöser Takt. Rhythmusstörungen? Eine hohe Frequenz. Kammerflimmern? Ein letztes Mal spitzte sie ihre Lippen. Ihren Lippenstift hatte sie gerecht in der ganzen Notaufnahme verteilt. Auf ihrer Tasse. Ihren Zähnen. Ihrem Kollegen. Ungeordnete Erregung.
Sie riss sich die Brille von den Augen. 1, 5 Dioptrien. „Diagnose? Diagnose? ! !“ Ihre schrille Kehle öffnete die Tür von Behandlungszimmer 3. Die langen Beine von Dr. Herrnschmidt bogen sich um die Ecken, die das Innenleben des Krankenhauskomplexes in ein Labyrinth verwandelten. Und noch ehe Schwester Bärbel die Blässe der gipsfarbenen Wände und der gipsfarbenen Uhr und des gipsfarbenen Krankenhaus annehmen konnte, wisperte Dr. Herrnschmidt: „Diagnose: Hals über Kopf“.
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