Die Erntevon Pia Feiel
Schon im Sommer, wenn die Tage sonnig und warm waren, voller Fliederduft und dem Gefühl von nassem Badegewand am erhitzten Körper, schon da freute sie sich auf September, wenn das alles vorbei sein würde: Der Sommer, die Hitze, die ausgelassene Fröhlichkeit, die alle Nachdenklichkeit und Ruhe aus dem Leben herausbrannte. Der Herbst war ein eigenes Kapitel, der Mantel schwer vom Nieselregen statt von lauwarmem Teichwasser getränkte Badeanzüge, die Sicht trüb von morgendlichem Nebel anstatt des vor Hitze umnebelten Kopfes. Sie wusste was sie vorzog.
Außerdem war September der Monat, in dem die Kinder gingen. Dann mussten sie wieder in der Schule sitzen, waren hinter Aufgaben, Büchern und den eigenen Erwartungen gefangen, und hatten nicht länger Zeit, die Stille der Kleingartensiedlung mit ihren schrillen Stimmen zu zerhacken und Früchte von ihren Bäumen zu stehlen. Denn sie musste sich vorsehen, der Winter würde kommen und sie würde alles für sich selbst brauchen.
Und immer wenn das Voranschreiten des Jahres ihr die Hitze, die Schulkinder und die ganze Last des Sommers von den alten Schultern nahm, dann brachte es ihr auch etwas mit. Wenn die überdrehte Leichtigkeit, frei von jeder Prüderie, das Geschenk des Sommers war, so waren die reifen Äpfel, Trauben und Zwetschken das des Herbsts. Fast passten diese Ereignisse einander ab: Der Sommer ging, nahm die Ferienlaune mit sich und an seine Stelle trat der Herbst mit seinem wolkenverhangenen Blick auf die Welt. Und damit begann die Ernte.
Sie tat es jedes Jahr zur selben Zeit, immer dann, wenn die Enkel und Kinder ihrer Nachbarn ihr Feriendomizil verlassen hatten. Dann war der Moment der Ernte gekommen. Und sie holte die Leiter mit dem rissigen Holz, von dem sich der Lack von unzähligen Sommern im heißen Gerätehaus und feuchten Herbsttagen ganz schuppig ablöste. Sie holte auch den Kübel aus Blech, mit dem Holzgriff aus dem die Späne herausstanden, um ihr in die Hand zu fahren, wenn sie allzu schwere Lasten darin trug. Fast erheiterte sie diese Fürsorge: „Ich weiß, Kübel,“ sagte sie dann. „ Ich weiß, zu schwer für mich, zu schwer für meinen alten Rücken.“ Und meistens trug sie ihn trotzdem vollbeladen ins Haus zurück. Denn vollbeladen war er jeden Herbsttag, vom ersten Schultag an bis zum vorletzten Septemberwochenende. So lange ging die Ernte im Kleingarten. Es waren lange Tage, manche noch drückend heiß wie im höchsten Sommer, andere schon so triefend grau von Regennässe, dass man meinen könnte, es hätte nie etwas Anderes gegeben. Und in diesen Tagen zwischen den Jahreszeiten holte sie die Früchte nach Hause, um sie auf dem Küchentisch aufzubahren. Dort türmten sie sich dann zu Bergen von rotfleckigen Äpfeln und prallblauen Zwetschken. Die Sonne stand schon tief am Himmel, wenn sie nach Hause zurückkam, um ihr Tageswerk zu betrachten, und meist blieb ihr nicht mehr viel Sonnenlicht übrig, um sich daran zu erfreuen. Die Müdigkeit zog sie bald schon ins Bett, wo sie mit schmerzendem Rücken und den Fingern voller Holzsplitter dalag. Und trotz der schweren Lider wollte der Schlaf sie oft noch lange nicht finden.
Je länger die Ernte ging, desto höher stapelte sich das Obst. Von außen sah es immer noch schön aus, doch aus dem Inneren kroch schon der süß-schwere Duft von Fäule und ihre Säfte tränkten das Holz. „Nicht so schnell! ,“ sagte sie dann zu ihnen. „Ihr müsst mir noch etwas Zeit lassen. Ich lasse euch nicht hier zurück, gebt mir noch einen Moment, eine Woche nur.“ Die Früchte jedoch gehorchten ihr nicht und schritten immer weiter voran in ihrer Reife: Bis zu dem Punkt, wo sie noch zu etwas zu gebrauchen waren und weit darüber hinaus schritten sie. Es war ihnen gleichgültig, dass Abend für Abend und Kübel für Kübel frische Ernte auf den Küchentisch regnete und auch die alte Frau, die verzweifelt bemüht war, sie alle einzusammeln, bevor der Winter kam, berührte sie nicht.
War die erste Septemberhälfte vorbei, hatten sich die Sommertage erschöpft und gaben ihre Wehrhaftigkeit auf. Dann, wenn der Herbst endgültig da war, war auch das Sammeln vorbei. Die Ernte war vollendet und die eingesammelten Schätze warteten am Küchentisch. Zu diesem zog die alte Frau dann ihren Schemel, setzte sich und machte sich daran, die Früchte des Sommers auf einen langen Winter in Gläsern vorzubereiten. Sie putzte und entkernte, schälte und entfernte schorfige und faulige Stellen aus dem gesunden Fleisch, schnitt es schließlich in feine Spalten. Viele Früchte hatte sie bewahren können, aber mehr noch waren bereits zu lange von ihrem Baum getrennt gewesen. Auf eine frische Birnen kamen drei faulige, auf einen rotbackigen Apfel zwei mit eingefallenen Wangen und Augen aus Schimmel. Sie hatte zu lange gewartet, die Ernte hatte zu lange gedauert. Ihre Finger waren wund vom scheuernden Griff des Kübels und dem rohen Holz der Leiter, und mit stählerner Schärfe fuhr ihr das Messer in die Haut. Aber ihre Hände konnten nicht schnell genug arbeiten. Einsammeln hatte sie sie zwar können, aber nicht retten. Und so saß sie in der Küche und der schwere Geruch der Fäulnis drückte ihr auf das Gemüt und machte ihre wunden Finger ungeschickt beim Zerteilen der übrigen Ernte.
Die Gläser nach dem Einkochen verbreiteten eine sterile Wärme, die sie mit einem Lächeln im Gesicht zurückließ. Es war zu viel und doch gerade genug. Und so wurden die sauber abgefüllten und etikettierten Erträge des Sommers in die Kellerregale geschlichtet. Fein säuberlich aufgereiht standen sie dort und warteten. Bereit für den Winter.
Im Juli kommen die Kinder, im August klettern sie auf ihre Bäume und am ersten Septembermontag sind sie verschwunden. Im Oktober fallen die Äpfel von selbst von den Ästen und die Leiter steht noch immer im Gerätehaus. Und den ganzen langen Winter hindurch warten im Keller die blassen Gestalten in ihren Einmachgläsern.
Wir danken unseren Unterstützern
Mit Unterstützung folgender Wiener Bezirke:




















Für Sponsoringanfragen wenden Sie sich bitte an Margit Riepl unter margit.riepl@gmx.at
Wenn Sie "Texte. Preis für junge Literatur" unterstützen möchten, spenden Sie bitte auf folgendes Konto:
Literarische Bühnen Wien, Erste Bank IBAN: AT402011182818710800, SWIFT: GIBAATWWXXX