Die ewige Jugend
Jeden Tag, am frühen Morgen, sehe ich die zwei jungen Buben. Paul und Peter heißen sie, wie sie frühstücken und dann krampfhaft versuchen, sich ihre Schuhe zu binden, um dann ihre Freunde in der Schule zu sehen. Manchmal gebe ich den Kindern eine helfende Hand, aber von Tag zu Tag werden sie immer besser. Das kommt davon, dass sie älter und selbstständiger werden.
Diese Phase habe ich auch durchgemacht. Um genau zu sein vor 72 Jahren. Das war die schlimmste aber auch beste Zeit meines Lebens. Es war die Zeit, in der ich mit nichtverschwindenden Pickeln kämpfen musste und mir nicht vorstellen konnte, mit einem Mädchen zu reden. Mit meinen besten Freunden die lustigsten Streiche spielte und mich mit ihnen betrank, bis ich doch mit einem Mädchen sprach. Nicht zu vergessen die stundenlangen Vorträge meiner Eltern, dass ich mich um meine Zukunft kümmern sollte.
Paul rennt zum Auto und setzt sich hinein, während Peter immer noch verzweifelt versucht, seine Schnürsenkel zu binden. Trotz meiner Rückenschmerzen stehe ich von meinem steinalten Lesestuhl auf und begebe mich zu meinem Enkelsohn. Ich bücke mich hinunter zu ihm und versuche, meine Schmerzen zu ignorieren, während ich dem Jungen mit zittrigen Fingern die Schuhe zubinde. Marie kommt fertig angezogen die Treppe herunter und greift mir sanft auf den Rücken. Jeden Tag sagt sie mir das Gleiche. Ich soll mich nicht anstrengen. Ich bin alt, aber der grausame Tod hat mich noch nicht eingeholt.
Als ich jung war, hatte ich so viel vor, dass ich zehn Leben gebraucht hätte, um alles zu erleben. Motivation war mein zweiter Name und wenn es was zum Lachen gab, war ich nicht weit. Voller Energie radelte ich jeden Tag die Straßen entlang und verteilte die Zeitung. Ich machte so viel, hatte so viel vor und lachte so viel, aber es hat mir nicht gereicht.
Marie schreibt mir schnell meinen heutigen Arzttermin auf und huscht mit Peter hinaus. Ich sehe wie sie in das in der Sonne schimmernde Auto steigen. Der Motor heult auf und schon sind sie verschwunden. Ich schließe die alte Holztür und gehe langsam die Treppen hoch in mein Schlafzimmer. Die Dose mit den heutigen Pillen steht auf meinem Nachttisch und wartet darauf, geöffnet zu werden. Wie ich sie verabscheue! Ich setzte mich auf das frisch bezogene Bett und greife in die Lade meines Nachtisches. Das alte Fotoalbum ist voll mit Erinnerungen an meine Jugend, meine Eltern, meine Frau und mein unvergessliches Leben. Ich streiche über das schwarz- weiße Hochzeitsbild von Frieda und mir. Vorsichtig lege ich das Album geöffnet auf das Bett und bewege mich auf das große Fenster zu. Der blaue Himmel, die saftigen Äpfel, die fröhlichen Menschen, die ungeöffneten Bücher, der Bauer mit der frischen Milch und die unerfüllten Wünsche. All das will ich wieder erleben.
Ich betrachte die kleinen Vögel, wie sie zwischen den weißen Wolken fliegen und ihr leben genießen. Leise öffne ich das Fenster und atme die frische Luft ein. Werde ich jemals genug haben?
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