Die Familientradition
Die Schulglocke läutet bereits zum zweiten Mal, als das verschwitzte Mädchen, das aber trotzdem noch genug Kraft besitzt, um niemanden enttäuschen zu müssen, den letzten Sprint ins Ziel hinlegt. Vor zwei Stunden durften ihre beiden Freundinnen schon ihre Sachen packen und nachhause gehen. Jetzt ist sie die einzige auf dem Schulgelände. Und nicht nur das: Sie muss für die kommende Meile trainieren und das nur weil ihre Geschwister, ihre Eltern und Großeltern, wenn nicht sogar auch ihre Urgroßeltern, dasselbe getan haben. Sobald das Mädchen die Ziellinie erreicht hat und dabei erleichtert aufatmet, ruft die unmotivierte Sportlehrerin ihr zu, sie hat sich ganz gut in der Zeit geschlagen und sie soll lieber noch zwei Runden auslaufen. Das Mädchen probiert ihr stark pochendes Herz zu ignorieren und läuft tapfer die zwei Runden fertig, während die Straßenlampen angehen. Sie erinnert sich an den Nachhauseweg und versucht krampfhaft nicht an den morgigen Tag zu denken, an dem sie in den ersten zwei Stunden eine Schularbeit schreiben muss, für die sie wegen dem täglichen Lauftraining nicht genug üben konnte. Aber sie probiert sich zusammenzureißen und verabschiedet sich mit einem erschöpften Lächeln von ihrer Sportlehrerin, greift zu ihrer für ihren Geschmack zu schweren Schultasche und begibt sich auf ihren Weg nachhause.
Schließlich kommt sie mit ihren Sportsachen in der Hand und ihrem mit unerledigten Hausaufgaben vollgefülltem Rucksack auf den Schultern in ihrem seit ihrer Kindheit kaum veränderten Zuhause an. Auf dem Weg zu ihrem Zimmer läuft sie ihrer Mutter über den Weg, die sich nach dem heutigen Schultag ihrer Tochter erkundigt. Mit einem müden Lächeln antwortet das Mädchen ihrer Mutter: „Mein Tag war ganz ok. Ich habe nur noch ein bisschen etwas für die Schularbeit zu tun“, und schließt leise die Tür von ihrem Zimmer. Schon vor einigen Wochen hat das Mädchen eingesehen, dass es keinen Sinn hat, sich mit ihren Eltern über die jährliche Meile zu unterhalten, zu der sie sich jedes Mal gezwungen fühlt. „Es ist halt Tradition“ ist das Einzige, was ihre Eltern deren Tochter zum Thema Meile zusagen haben. „Und die Familientradition der Meile muss weitergeführt werden. Traditionen haben kein Ende.“
Wir danken unseren Unterstützern
Mit Unterstützung folgender Wiener Bezirke:
Für Sponsoringanfragen wenden Sie sich bitte an Margit Riepl unter margit.riepl@gmx.at
Wenn Sie "Texte. Preis für junge Literatur" unterstützen möchten, spenden Sie bitte auf folgendes Konto:
Literarische Bühnen Wien, Erste Bank IBAN: AT402011182818710800, SWIFT: GIBAATWWXXX