Die Freiheit
Ich erinnere mich an das erste Mal, als ich Sie wahrgenommen habe, ich muss 5 oder 6 gewesen sein. Meine Mutter zwängte mich wie jeden morgen in ein kratziges und unpraktisches Kleid, das ich nie anziehen wollte. Von draußen hörte ich meine Brüder toben und schaute über ihre Schulter aus dem Fenster. Da unten war Sie, im Garten. Sie spielte Fangen mit meinen Brüdern und lachte dabei. Sie schaute kurz zu mir hoch und zwinkerte mir zu.
Mit 8 war es meine Aufgabe, die Wäsche zu waschen und zum Trocknen aufzuhängen. Ich mochte es, mich auf den Hocker zu stellen und groß zu sein, anders konnte ich die Wäscheleinen nicht erreichen. Inmitten von hängender weißer Wäsche sah ich jemanden um die andere Ecke des Bettlakens, das ich gerade befestigte, verschwinden, und jagte hinterher. Im Zickzack den hängenden Laken ausweichend kam ich Ihr immer näher. Nach der letzten Wäscheleine hatte ich endlich freie Sicht und schaute mich nach Ihr um. Da hörte ich meine Mutter nach mir rufen. Ich drehte mich um; sie zeigte wortlos auf den Wäschekorb. Zu spät, Sie war weg.
In die Schule durfte ich nicht, obwohl ich gerne gegangen wäre. Als meine Brüder zum ersten Mal zur Schule gebracht wurden, wurde ich furchtbar neidisch und verstand nicht, warum es nur meine Pflicht war, auf meine kleinen Geschwister aufpassen und bei harter Hausarbeit zu helfen. Ich wollte nur noch weg. An diesem Abend sah ich Sie wieder von meinem Fenster aus. Sie winkte mich herunter und deutete in die Ferne. Ich schaute weg und zog die Vorhänge zu.
Zu meinem 17. Geburtstag habe ich von meiner Mutter erfahren, dass mich ein 35 jähriger Mann zur Frau gewählt hat. Ich kannte ihn nicht. Die Hochzeit sei schon arrangiert und man habe einen guten Preis für mich aushandeln können. Ich wollte nicht weg, ich hatte Angst. Angst vor ihm, Angst vor dem was auf mich zukommt. Aber es war meine Pflicht. Ich konnte Sie nach mir rufen hören, aber ich hatte Angst vor Ihr. Ich wusste, dass ich auf mich alleine gestellt bin, wenn ich mit Ihr gehe.
Ich wurde abgeholt und vermählt, bei der Zeremonie liefen Ihr leise Tränen über die Wangen.
Mit 25 hatte ich 5 Kinder bekommen. Ich schmiss den Haushalt von früh bis spät; am Abend hielt ich die Kinder von meinem Mann fern. Er will nach der Arbeit seine Ruhe, ich hatte nie welche. Ich hörte immer auf meinen Mann, fühlte mich von ihm beschützt. Er übernahm die Verantwortung für mich, selbst musste ich mich nie durchsetzen. Ich liebte ihn nicht. Sie habe ich schon fast vergessen.
Ich war dabei den Einkauf zu erledigen, als es passierte. Ich sah Sie. Unverwechselbar Sie. In schillernden Farben erhellte sie die gesamte Einkaufsstraße. Ein lauter Protest, nur Frauen. Ich sah Sie in jeder Frau in der Menschenmenge, in jedem entschlossenen Augenpaar, das den geballten Zorn der Menge nach vorne richtete. Ihre Parolen erreichten mich. Sie sah wunderschön und gefährlich aus. Ich wusste, dass ich ab jetzt in eine ungewisse Zukunft blicke.
Sie streckte ihre Hand aus, und ich nahm sie an.
Wir danken unseren Unterstützern
Mit Unterstützung folgender Wiener Bezirke:
Für Sponsoringanfragen wenden Sie sich bitte an Margit Riepl unter margit.riepl@gmx.at
Wenn Sie "Texte. Preis für junge Literatur" unterstützen möchten, spenden Sie bitte auf folgendes Konto:
Literarische Bühnen Wien, Erste Bank IBAN: AT402011182818710800, SWIFT: GIBAATWWXXX
Ihre Spende ist steuerlich absetzbar!
Spendenbegünstigung gemäß § 4a Abs. 4 EStG 1988; Registrierungsnummer KK32646
Weitere Antworten rund um die Spendenabsetzbarkeit für Privatpersonen und Unternehmen
