Die Geschichte
Es ist kurz vor 9 Uhr als er aufwacht. Er hat einen dieser Tage, wo man direkt wach ist sobald man die Augen öffnet, also setzt er sich auf und stellt die Füße auf den Boden. Es ist ein gewöhnlicher Tag, nicht besser oder schlechter als sonst, nicht heller oder dunkler, lauter oder leiser. Einfach nichts Besonderes. Seine Gelenke bereiten ihm große Schmerzen, doch auch diese sind ganz gewöhnlich. Er ist im Kopf jung geblieben, deshalb macht er sich nicht viel aus Gelenksschmerzen, einem beeinträchtigten Gehör oder der Seeschwäche. Er zieht sich an und macht sich auf den Weg zum Frühstückssaal wo er von Schwestern, Ärzten und Mitbewohnern herzlich gegrüßt wird. Die Leute schätzen ihn sehr.
Im Saal angekommen setzt er sich zu seinem Platz am Fenster. Es lässt ihn direkt auf den maigrünen See blicken, welcher durch die noch aufgehende Sonne glitzert wie ein wunderschöner Wald kurz nachdem es geregnet hat. Die meisten Menschen hier scheinen den See gar nicht zu beachten, es ist auch mehr eine Lacke als ein See, und die Farbe des Wassers ist auch nicht sonderlich anschaulich. Doch für ihn ist er etwas ganz Besonderes. Er erinnert ihn an die Augen seiner ersten Liebe, die es ihm so schwer macht, sie zu vergessen. Bevor er sich noch weiter in seinen Gedanken verlieren kann, kommt die Schwester und bringt ihm seine Pillen. An ihrer Seite hat sie eine Dame, etwas pummelig aber trotzdem noch sehr hübsch und frisch für ihr Alter. Die Schwester macht die beiden bekannt und wenn auch etwas zögerlich setzt sich die Dame zu dem Mann. Sie kommen ins Gespräch, reden über dieses und jenes, belangloser Smalltalk doch beide genießen es. Vor allem er. Nach einer Weile holt der Mann ein kleines weißes Buch mit blauer Schrift aus seiner Tasche. Es scheint schon sehr alt zu sein da kaum erkennbar ist wie der Titel lautet. Sehr zurückhaltend, aber hoffnungsvoll fragt er die Dame, ob er ihr aus dem Buch vorlesen könne. Es ist sein Lieblingsbuch. Natürlich stimmt die Dame zu und so beginnt er zu lesen. Seine Stimme ist rau und tief und vielleicht auch etwas zittrig.
Seine Augen wandern von links nach rechts und einige Momente später befinden die zwei sich mitten in einer Liebesgeschichte, die schönste welche seit langem geschrieben wurde. Der Autor des Buches schmückte die Erzählung mit ganz vielen kleinen Details wodurch man das starke Gefühl bekommt er selbst war die Hauptfigur. Die ganze Geschichte ist voll von Kitsch, im Regen tanzen, der erste Kuss, das erste Mal und so weiter. Es wird einem beim Lesen vor lauter Liebe schon fast schlecht, weil alles so perfekt scheint. Die Dame hört dem Mann eine halbe Ewigkeit zu, ohne auch nur ein Wort zu sagen da sie so gefesselt von seinen Worten ist. Kurz vor dem Ende unterbricht sie ihn. Sie legt die Hand auf die Buchseiten, um ihn am Weiterlesen zu hindern. Er sagt nichts. Er schaut nur in ihre Augen. Sie schaut zurück. Ängstlich, verzweifelt aber vor allem hoffnungsvoll. „Ich kenne die Geschichte. Ich kenne sie weil es unsere ist.“
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