Die graue Wohnung
Es war 10 Uhr abends. Herbsttag. Die Sonne ging schon unter, der Wind blies durch die Straßen, in eine enge Gasse hinein, welche von hohen Blockhäusern umgeben war. An einer grauen Hausfassade blieb ein Fenster offen, die Vorhänge wellten kräftig. Ein Mann Mitte dreißig trat zum Fenster, schloss es, ohne darauf zu achten, dass auch ein Stück vom Vorhang eingezwickt wurde. Er war aber wenig daran interessiert, denn er hatte wichtigere Probleme. Er ging in die Küche und lehnte sich an die Theke. Er trug ein Unterhemd und eine Jogginghose, er musste schon seit Tagen die Wohnung nicht verlassen haben. Dies waren eindeutig nicht die besten Tage seines Lebens. Er schnappte sich eine Flasche Wodka aus dem Schrank, nahm einen großen Schluck, wischte den Rest des Getränks mit seinem Handgelenk ab und trank wieder. Das wiederholte er noch einige Male. Dann versuchte er ein stärkeres Mittel zu finden. Mehrere Schubladen wurden heftig aufgerissen, durchsucht, einige Schecks und Rechnungen zur Seite geschoben. Endlich fand er, was er suchte: einen kleinen Schlüssel. Den Schlüssel des Medikamentesschrankes. Dort bewahrten sie die gefährlichen Mittel auf. Nach kurzem Zögern nahm er das Verdünnungsmittel und trank es schnell aus.
In der gleichen Minute klopfte es lautstark. Die Person vor der Tür bekam keine Antwort. Nach einer Weile nahm sie ihren Schlüsselbund heraus und sperrte die Tür auf. Die Tür ging auf und Licht kam in die dunkle Wohnung. Eine Frauenstimme unterbrach die Stille:
- Ich bin wieder da, wo bist du? Die Kinder schlafen schon, oder?
Keine Antwort. Die Frau ging hinein, dann schrie sie leise auf, und alle Kräfte verließen sie, ihr Herz, ihr krankes Herz raste in ihrer Brust. Sie sank neben dem am Boden liegenden Mann auf die Knie.
- Das kannst du mir nicht antun -flüsterte sie mit erstickter Stimme. Durch die Proben des Alltags war die Liebe zwischen den beiden längst erloschen, und sie waren nur noch zusammen, weil das Leben so doch etwas leichter war; Die Kosten der kleinen Wohnung zu tragen, die Kinder zu ernähren… Es war absehbar, dass einer von ihren früher oder später den Kampf aufgeben würde und der andere somit bisher noch nie gekanntes Leid und Sorgen auf sich laden müssen würde.
Für den einen ist nun alles vorbei, doch für den anderen beginnt jetzt die allerschwerste Zeit.
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