Die Kreuzfahrt
Eine junge Frau sah aus dem Fenster ihrer Kabine hinaus und beobachtete, wie die Küste langsam an ihrem Blickfeld vorbeizog. Das Schiff, auf dem sie sich befand, bewegte sich nur schwerfällig, das einzige, das sie hörte, war das Rauschen des Meeres und das leise Rattern der Schiffsschraube. Das Gesicht der Frau war blass und abgemagert, es sah stark gealtert aus, obwohl sie nicht mehr als 30 Jahre alt war. Trotz des vielen Geldes, das sie auf die Kreuzfahrt ausgegeben hatte, lagen ihre Gedanken nicht bei Griechenlands idyllischer Natur, sondern bei ihrer Ehe. Die Frau dachte nicht gerne darüber nach. Sie wusste nicht, wie lange sie sich nicht mehr in den Spiegel geschaut hatte, weil sie die zahllosen Wunden und blauen Flecken nicht sehen wollte. Doch nun war sie alleine auf einem Schiff, tausende Kilometer von ihrem Mann entfernt. Dem Mann, den sie liebte. Der sie nicht liebte. Wie konnte er sie lieben, wenn doch nach jedem zärtlichen Wort ein Wutausbruch folgte? Am Anfang war er doch liebevoll gewesen, so liebevoll, dass sie ihn nun dafür hasste, da er sie so an sich gebunden hatte. Und nun, nach zehn Jahren, war es Zeit. Schon seit einer Stunde kämpfte die Frau innerlich mit sich selbst, doch sie musste sich überwinden, das wusste sie. Sie konnte so nicht weiterleben. Die Frau griff nach dem Telefon und gab seine Nummer ein.
Er sah auf das Meer hinaus. Seine Finger hatten sich um eine Uhr verkrampft, die er sich vor drei Wochen gekauft hatte. Geld, Geld, Geld. Es war ein seltsames Gefühl, alles verloren zu haben. Vor drei Wochen hatte er noch im Kartenspiel triumphiert, seine Familie schwankte zwischen Sorge und unterdrückter Freude, als er entweder mit leeren Taschen nach Hause kam oder mit einem neuen Auto in die Garage einfuhr. Aber dann hatte das Ganze zu einer Abfolge von alptraumhaften Ereignissen geführt. Er erinnerte sich verschwommen an den Kartenspieler mit dem Goldzahn, der immer dann hervorblitzte, wann sich sein Mund zu einem siegessicheren Lächeln verzog.
Er hatte alles verloren. Zuhause hatte er sich bei einigen Menschen verschuldet und hatte dieses Geld dann füreine Kreuzfahrt ausgegeben. Das sollte seine letzte Kreuzfahrt werden, dessen war er sich sicher. Nach 24 Jahren war nun sein Leben vorbei.
Als er an die Reling trat, schien sich im Meerwasser sein ganzes bisheriges Leben abzuspielen. Er wusste nicht, wie lange er herunterstarrte, doch er wurde von dem Rufen und Schreien einer Frau aus seiner Trance gerissen. „Ich kann doch nicht. . . dankbar sein!“, hörte er sie schluchzen. „Du sagst, du bist der einzige, der mich lieben kann, aber ich habe Angst vor dir!“ Den Rest hörte er nicht.
Nach einer Weile kam aus einer Kajüte, ein paar Meter von ihm entfernt, eine Frau heraus. Ihr Gesicht, mit vom Weinen geröteten, aber leuchtenden Augen, hatte einen Ausdruck, der sich nicht beschreiben ließ. Der Mann wusste nur, dass er später in seiner Kabine zum Telefon griff. Seine Familie brauchte ihn doch noch.
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