Die Malerin
Sie war Malerin.
Jeden Morgen griff sie zu ihrem Pinsel, ließ ihn zwischen ihren Fingern tanzen, ließ ihre Gedanken kreisen, nahm eine frische, neue Leinwand und stellte sie vor sich hin. Sie malte Träume, deren Umrisse sie so lange nachzog, bis sie von der Leinwand in die Wirklichkeit hineingaloppierten; sie malte Ängste, die sie zerriss, bevor sie lebendig werden konnten. In ihrem Atelier gab es auch ein sehr großes, rundes Bild. Sie hatte es nicht selbst gemalt, es war immer schon da gewesen. Grüne und braune Linien rankten sich über die alte, schwere Leinwand dem leuchtenden Goldgelb am oberen Ende des Bildes entgegen. In Blau flossen gewellte Pinselstriche zwischen dem Grün und Braun hindurch, vorbei an kirschroten und brombeerschwarzen Farbtupfern, bis schließlich das Tiefblau an den Rändern der Leinwand zu Ultramarin und dann zu Azurblau wurde.
Oft saß die Malerin lange Zeit schweigend vor dem großen Bild und ließ die von ihm ausgehende Ruhe durch ihren Körper strömen. Doch irgendetwas irritierte sie, brachte sie aus dem Gleichgewicht. Vielleicht war es der Gedanke, dass es nicht ihr eigenes Werk war, das sie betrachtete. Eines Morgens griff die Malerin nach ihrem Pinsel und tauchte ihn tief in kräftige, rote Farbe. Sie hob ihn an und senkte ihn schwungvoll auf das stark gespannte Tuch. Für einen Augenblick überdeckte das schillernde Rot das Blau, dann aber wurde es durchscheinend, verflüssigte sich und rann in dicken Tropfen von der Leinwand herab. Verblüfft nahm die Malerin erneut den Pinsel zur Hand und wiederholte den Vorgang, ein zweites, ein drittes, ein viertes – ein verständnisloses fünftes Mal. Alles, was blieb, waren feine, blassrosa Linien.
Jetzt warf sie ihren Pinsel zu Boden und trat ganz nahe an das Bild heran. Zuerst mit ihren Fingernägeln, die bald brachen, und später mit einer Spachtel, versuchte sie, die alte Farbe von der Leinwand zu schaben. Tatsächlich blätterte etwas Grün und Braun ab und hinterließ einen hässlich ausgefransten Fleckenteppich. Auf die leeren, schmutzig weißen Stellen klatschte die Malerin feuerrote und eisgraue Farbe. Und weil die Ruhe und der Widerstand, die ihr das Bild entgegensetzten, ihr Unverständnis in schäumende Wut verwandelt hatten, packte sie die umliegenden Nägel, die sie normalerweise verwendete, um Bilder an die Wand zu hängen, und stieß sie in die Mitte der Malerei. Sie suchte nach Schrauben und Drähten und presste sie in die Leinwand; sie goss silberne, kupferne und kieselgraue Farbe über das fließende Blau; sie hörte erst auf, als Erschöpfung sie übermannte und sie vor dem Bild zu Boden sank.
Da lehnte es nun. Rote Flammen hatten die grünen und braunen Pinselstriche zerfressen, das einst schillernde Blau wellte sich nur mehr träge, matt und gräulich über die Leinwand. Metall durchlöcherte die Landschaft und vereinzelt lösten sich kirschrote und brombeerschwarze Farbblätter vom Stoff.
Da lehnte es nun. Lange betrachtete sie das Bild. Dann stand sie auf und drehte es gegen die Wand.
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