Die Person gegenüber / Wien, 2. November 2020von Sarah Bahmou
Die Person gegenüber.
Wien, 2. November 2020
Es gibt Tage, an denen schaue ich mir lieber ins Gesicht als heute.
Ich habe heute versucht, allein ein Lied zu singen, und geweint habe ich.
Es gibt Tage, an denen sehe ich sie wirklich, die Person Gegenüber, kann sie erkennen, heute ist keiner davon. Ich weiß nicht wer sie ist.
Ich hatte einen Plan für den Tag, aber ich konnte nicht. Es hat dann wieder weh getan.
An diesen besonderen Tagen nämlich, wenn wir uns wirklich in die Augen und durch sie hindurch noch weiter ineinander schauen, fühle ich wie wir uns verstehen.
Vielleicht würde man es gar nicht weh tun nennen. Nur irgendetwas breitet sich aus, von der Mitte des Körpers aus.
Oft wünschte ich, dass viele Tage mehr mit diesem Verstehen gefüllt wären. Dass Tage voller Momente, in denen die Person gegenüber und ich, wir, eins sind, ständig vorkämen.
Das, was sich ausbreitet, ist ein Schmerz, denke ich. Dieser Schmerz in der Mitte ist nicht nur meiner.
Gestern war ich auf der Straße, nicht nur ich, viele. Ich hatte eine Blume in der Hand, viele Lichter. Dann habe ich mich hinunter gebeugt zum Boden, zum Grund, und ich habe sie dort gelassen die rosarote Blüte, dort am Boden, am Grund, bei ihnen, die nicht mehr bei uns sein können, sie bleiben dort.
Jetzt gerade aber sind wir ganz weit weg voneinander, sie und ich. Selbst wenn ich sie anstarre, flehend danach etwas zu sehen in ihrem Gesicht, bleiben die Augen leer, grün, aber leer.
Viele Lichter, viele Blüten am Grund. Auch viel Schmerz aus vielen Mitten. Ich ging dann, weil es drückte etwas immer fester, presste sich gegen die Innenwand meines Selbst, meiner Gedanken, meiner Mitte. Es war das Ächzen, das Traurigsein der anderen Herzen, glaube ich. Also machte ich kehrt, fuhr die Rolltreppe hinunter und dann erreichte das Pressen gegen die Mitte seinen Höhepunkt, erlag meinem Widerstand und ließ nach. Sanfte, hauchdünne Tränen fand ich auf meinen noch kalten Wangen.
Manchmal können die grünen Augen auch weinen. Zuerst weinen ihre, dann meine. Oder umgekehrt oder gleichzeitig. Wenn die zarten Tropfen aus den grünen Lichtern fallen, da fühlen wir beide etwas, gemeinsam. Etwas traurig Schönes, etwas Bittersüßes.
Kann ich verstehen was passiert ist, fragen mich die feuchten Augen dann. Ich kann ihnen darauf nichts antworten. Aber eines weiß ich: nicht nur die rosarote Blüte habe ich dort gelassen am Boden, am Grund, bei den Lichtern, bei ihnen, auch ein Stück, ein Bruchteil meiner Mitte bleibt nun da. Zusammen mit anderen Bruchteilen werden sie dort eine neue Mitte bilden, das weiß ich, darauf muss mir niemand antworten.
Das Bittersüße, entsprungen aus den grünen Augen, will ich greifen können. Heute schaue ich mir ins Gesicht, auch wenn es Tage gibt, an denen ich das lieber tue. Und ich kann sie nun doch sehen, ein bisschen.
Sie, die Person gegenüber, deren Arme kraftlos hängen, so wie meine jetzt,
deren Beine standhaft sind, aber heute durch den leichtesten Stoß ins Taumeln geraten könnten, so wie meine heute,
deren Augen grün sind und bittersüß sein können, weil es eben meine sind,
sehe ich klar vor mir.
Ich starre Ich an. Dazwischen nur das spiegelnde Glas, das uns trennt, in einem seltsamen Bann befinden wir uns, vereist, versteinert. Der kalte Blick hält so lange, bis aus dem bittersüßen Grün ein Tropfen kullert.
Ich und mein Ich gegenüber, wir sehen uns jetzt endlich, wahrlich, aus unseren grünen, traurigen, schönen Augen an und wissen, dass wir ewig sind.
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