Die Sache mit den Gedanken
Sehr geehrter Gedanke!
Geh bitte.
Gedanken sind schon etwas Seltsames. Mal sind sie da und im nächsten Augenblick sind sie auch schon wieder weg. Erinnert mich ein wenig an eine WhatsApp-Nachricht. Zuerst ploppt sie auf meinem Bildschirm auf, dann antworte ich oder nehme es mir zumindest vor. Wenn ich nicht gleich antworte, vergesse ich manchmal darauf. Das ist gar nicht unhöflich gemeint, so bin ich halt. So ähnlich ist das ja eigentlich mit den Gedanken. Zuerst taucht einer wie aus dem Nichts auf, dann verfolge ich den Gedanken oder er verstummt wieder. Manche Gedanken verstummen aber nicht von selbst. Sie werden ein Teil von dir, dringen in dein Unterbewusstsein ein und bestimmen deinen Alltag.
Eine eigene Welt – ein gemeinsames Rätsel. Es gibt da einen einzigen Gedanken, den sich schon jeder Mensch auf der Welt gemacht hat. Er verbindet und trennt gleichermaßen: Der Gedanke um den Tod. Der eine fürchtet ihn, der andere sehnt sich danach. So ist es halt, die Sache mit dem Tod. Wir können ihn unterdrücken, den Gedanken, aber er wird uns wohl noch ein Weilchen beschäftigen. Er schleicht sich immer wieder in unser Gedankenkarussell ein. Nicht auffällig, sondern eher wie ein winzig kleines Staubkorn, das auf der Oberfläche landet. Eine Zeit lang bleibt es unbemerkt und liegt da vor sich hin, aber gesellen sich immer mehr Staubkörner hinzu, kann man eines feststellen: Hier muss wieder Staub gewischt werden.
Aber für mich gibt es nur einen Gedanken, der ständig in meinem Kopf schwirrt – das ist der Hutgedanke. Als ich noch jünger war, so um die sechs Jahre, bedeutete mir mein Hut alles. Stroh, weiß, braunes Band, mit der Zeit vielleicht etwas mitgenommen, aber ja, das war mein Hut. Ich ging mit ihm auf Entdeckungsreisen, in den Pool, zur Schule, einfach überall hin. Er war mein treuer Begleiter. Er kannte Seiten von mir, die nicht mal ich selbst kannte. Wir standen uns sehr nah, mein Hut und ich. Zumindest bis zu diesem einen Tag. Es war an einem herbstlichen Abend. Während eines Spaziergangs stahl ein stilles Lüftchen meinen Hut. Hut ab hieß es also für mich in diesem Moment. Zuerst wurde ich panisch, begriff aber gleich, dass mein Hut weiterziehen muss. Wir sind beide älter geworden, mein Hut und ich. Es ist ok, ihn fliegen zu lassen, er wird seinen Weg ohnehin finden, mein Hut. Das dachte ich mir zumindest. Offen gestanden trauerte ich sehr lange und konnte nie wirklich verstehen, warum er weitergezogen ist. Anscheinend konnte mein Hut das Rätsel des Todes nicht mehr erwarten. Da war er einfach weg, mein Hut.
Sehr geehrter Gedanke!
Geh bitte.
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