Die Stimme
Ich starre wie gelähmt auf den Tisch. Noch ist er leer. Noch ist alles gut. Der Lärm der anderen Gäste schallt in meinem Kopf. Ein dumpfes Dröhnen erfüllt mein Gehirn und fügt sich perfekt in den brüllenden Gedankenstrudel ein. Was mache ich hier? Wieso habe ich dem zugestimmt? Die Gedanken und Vorwürfe überschwemmen mich, reißen mich mit in eine Flut der Nervosität. „Ambra? Ambra!“ Eine Stimme dringt von weit her zu mir durch. Der leicht genervte Ton verrät, dass mein Name zum wiederholten Mal genannt wurde. Für einen kurzen Moment schließe ich die Augen und reiße mich los von meinem Gedankenlabyrinth. Mein Blick wandert in Richtung der Stimme. Es ist die von Lexi, einer Freundin. Offenbar hat sie mir eine Frage gestellt und so, wie die anderen mich anschauen, dürfte es eine pikante gewesen sein. „Wie bitte?“, bringe ich mit einem entschuldigenden Unterton hervor. Lexi grinst und neigt sich mit einem verschwörerischen Lächeln zu mir. Doch noch bevor sie ansetzen kann, ihre Frage zu wiederholen, serviert ein Kellner das Essen. Ein riesiger Topf Pasta für alle. Hilfe. Tausend Warnungen schießen mir gleichzeitig durch den Kopf. Rot, alles ist rot und laut. Mein Herz beginnt zu rasen und ich fühle mich bedrängt. Wie ein wildes Tier, dem man einen Strick um den Hals gelegt hat. „Du kannst nicht. Ich bin dein Gebieter, du brauchst mich.“ Die Stimme ist wieder da. Die Stimme, die meinen Kopf beherrscht. Der ich gerne gehorche, weil sie mir so vieles gibt. Ohne sie bin ich niemand, nichts. Hektisch erwäge ich meine Optionen. Ich kann nicht essen, aber nicht essen? Auch unmöglich. Sie würden es merken, erkennen, dass etwas nicht stimmt. Alle beginnen zu essen. „Zu viele Kalorien, du kennst die Zutaten nicht. Vertrau mir, es ist besser für dich.“ Sie hat recht, wie immer hat die Stimme recht. Nie könnte ich das einfach essen. Lexi schaut mich an. Fragend, verwundert. Ich muss raus, muss mich bewegen. Sport, Kalorien verbrennen. Jetzt schnell handeln. Ein glaubhafter Vorwand ist, was ich brauche. Egal was, einfach nur weg. Sofort. Ich schlucke und beginne mein Schauspiel. Eine neue Facette. So wie immer in letzter Zeit. Mit weit aufgerissenen Augen ziehe ich scharf Luft ein und fluche: „Ich muss zu meiner Oma, das hatte ich völlig vergessen. Tut mir leid ich muss gleich los!“ Ok, das klingt plausibel. Ich verabschiede mich und gehe. An der Tür drehe ich mich noch einmal um. Beim Anblick meiner Freundinnen bildet sich ein Kloß in meiner Kehle. Früher konnte ich auch dabei sein. „Gut gemacht. Und jetzt geh.“ Ich zögere. „Geh, bitte!“, diesmal nachdrücklicher. Mein Kopf schmerzt, aber ich gehorche, verlasse das Restaurant und fahre ins Studio. Trainieren. Das Einzige, was mir etwas bringt. Wieder einmal hat die Stimme, meine Wegberaterin, meine Freundin, mich gerettet. Und dennoch. Es bringt mich langsam um. Dauernd lügen, dauernd allein sein, dauernd trainieren. In diesem Moment wünsche ich mir, ich könnte die Worte zurückgeben. Ihr sagen: „Geh, bitte.“
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