Die Stimme in meinem Kopf
Die Stimme war anfangs nur ganz leise. Sie half mir bei schwierigen Entscheidungen und dabei mein Ziel niemals aus den Augen zu verlieren. Doch nach und nach wurde sie ein immer größerer Teil von mir. Sie wurde meine Freundin und je länger sie bei mir war, desto dünner wurde ich. Das Zunehmen an Komplimenten war äquivalent zu dem Verschwinden meiner Kilos. Es war alles „perfekt“.
Bis ich die Kontrolle verlor. Brot, Schokolade, Pizza, Essiggürkchen, Chips - alles was in meiner Reichweite stand, war binnen Minuten verschwunden. Mein Bauch schwoll schmerzhaft an und mir traten Tränen in die Augen. Die Stimme in meinem Kopf hörte nicht auf zu schreien. Sie beschimpfte mich und auf einmal sahen die leeren Verpackungen um mich herum aus wie Leichen. Leichen. Ich hatte sie alle umgebracht. Mir wurde speiübel und ich rannte aufs Klo, ehe ich mich versah, war mein Magen wieder leer. Doch das war der Stimme nicht genug, sie wollte mich leiden sehen. Ich erbrach mich, bis ich zitternd, wie ein Häufchen Elend zusammenbrach. Schweißgebadet mit aufgeplatzten Adern auf den Lidern, einer Mischung aus Rotz, Tränen und Erbrochenem im Gesicht, lag ich auf den eiskalten Fliesen. An diesem Tag begann der Krieg. Der Krieg gegen meine Freundin. Der Krieg gegen mich.
Apfelessig zum Frühstück, ein Suppenwürfel zu Mittag und Laufen bis zur Grenze des Kreislaufkollapses wurden abgelöst von Fressattacken, gefolgt von stundenlangem, verzweifeltem Erbrechen. Ständig mit dieser Stimme in meinem Kopf, die mich anschreit. Die mir sagt, dass ich ein Nichts bin. Ein fettes Schwein das nichts kann außer fressen. Diese Wut und diese Beleidigungen wurden zu ständigen Begleitern und schließlich redete ich mir ein, dass ich nichts anderes verdient habe. Die Zeit verging, der Bauch wurde runder und die Hose enger. Der Ekel und die Furcht vor weiteren Speckrollen stiegen ins Unermessliche. Ich konnte nicht schlafen, weil Bilder von meinem fetten, aufgedunsenen Körper in meinem Kopf umherschwirrten. Meine Ängste holten mich ein und alles wurde von der gemeinen Stimme kommentiert.
Plötzlich rutschte ich in ein Loch. Ein tiefes, dunkles Loch. Ohne Leiter, ohne Hilfe. Ganz allein unten in dem Loch, mit der Stimme in meinem Kopf, die mich langsam aber sicher in den Wahnsinn trieb.
Blut, warmes Blut, dass über meine Handgelenke rinnt. Ein stumpfer Schmerz, der mich kurz aus diesem Loch herauszieht. Der mir Hoffnung gibt, dass mir jemand hilft, dass mich jemand hört. Denn in diesem bodenlosen Loch herrscht nur Stille, da hört mich niemand. Nur Elend und Leid existieren und Tränen. Tränen der Trauer, der Wut, der Hoffnungslosigkeit. Vielleicht auch der Wunsch zu sterben?
Das Einschlafen wurde schwerer, die Panikattacken häufiger und das Fressen und Erbrechen ein Teil von mir.
Das Mädchen, das ich früher einmal war, existiert nicht mehr. Sie ist tot und kommt nie wieder. Denn ein Teil von ihr ist in diesem Loch und dieser Teil wird nie wiederkommen.
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