Die Tänzervon Otto Marks
Der Tanz ist nicht geordnet, er befolgt keine Regeln; es ist kein Tanz, den man einstudieren oder aufführen könnte. Es ist der Tanz des Lebens; der Rhythmus, der jeden Atemzug begleitet, die Bewegungen zu einer Musik, die sich aus jedem Ton dieser Welt zusammensetzt. Vier Menschen in vier Städten, getrennt durch Raum und Zeit, und dennoch sind sie verbunden; dennoch sind ihre Geschichten miteinander verwoben, ohne dass sie es wissen. Sie tanzen, denn sie sehen die Welt als das, was sie ist: eine Leinwand, auf der jeder sein Gemälde malt, und nichts rückgängig machen kann.
Agnes – London, 1871
Der Nebel schien sich nicht zu heben.
Er hing über der Stadt wie eine Decke und ließ die Häuser wie Phantome erscheinen, die aus der Nacht hervorragten; es fröstelte Agnes, als sie die Straßen durchkreuzte.
In London war es nie still; nicht im Morgengrauen, und auch nicht jetzt, nahe der Mitternachtsstunde, nachdem sie aus der heruntergekommenen Kneipe entlassen wurde, in der sie arbeitete. Aus halb geöffneten Fenstern schallte das Geschrei von Säuglingen, der Wind trug leises Geflüster aus den dunklen Seitengassen herbei und hier und da hörte sie Klirren, Schreien oder Gemurmel, welches sie nicht zuordnen konnte. Das hatte der Nebel an sich: alle Geräusche schienen übernatürlich, wenn man ihren Ursprung nicht kannte.
Je weiter sie sich ihrem Zuhause näherte, desto ärmlicher wurden die Gebäude. Aus den letzten Kneipen, die noch offen waren, schallte lautes Gelächter und Gejohle, hier und da schliefen Menschen auf dem nassen Kopfsteinpflaster; die Häuser hatten gesprungene Fensterscheiben, aufgebrochene Türen.
Agnes lag reglos auf ihrer abgenutzten Matratze in ihrem winzigen Zimmer, welches sonst leer war; die Tapete war mit Flecken und Rissen übersät, ein Brett im Fußboden fehlte und durch das Fenster, für welches sie keinen Vorhang hatte, drang das milchige Licht der nächtlichen Stadt.
Vor Jahren, als ihre Eltern gestorben waren, wusste sie sich nicht anders zu helfen, als nach London zu ziehen: damals sah sie vor sich die goldenen Lichter der Stadt und eine leuchtende Zukunft in den alten Gassen. Doch als sie sich nun, Jahre später, als Serviermädchen in einem schäbigen Zimmer im ärmsten Stadtviertel wiederfand, sah sie, wie naiv sie gewesen war: die Lichter von London waren nicht golden, sondern fahl, und ihre Zukunft war so leuchtend wie das schmutzig braune Wasser der Themse. Endlich der erstickenden Einöde ihrer Heimat auf dem Land entflohen, fühlte sie sich gefangener denn je in dieser Stadt, die sie liebte und hasste zugleich.
Und so fand sie sich im Treppenhaus, die knarrenden Stufen hinaufgehend, ohne ihr Ziel zu kennen. Sie kletterte durch die Klappe in der niedrigen Decke des Obergeschosses auf die feuchten, abschüssigen Schindeln des Dachs hinaus und hielt sich am Schornstein fest.
Der Wind heulte um sie herum, nahm ihr den Atem; von hier oben sah sie alle Lichter der Stadt, und obwohl sie nicht die goldenen Lichter ihrer Träume waren, waren sie doch das Schönste, das sie je gesehen hatte: ein Spinnennetz aus leuchtenden Fäden, an dem der Nebel wie Morgentau hing; über ihr blickte der Mond vom verrauchten Himmel herab, eine einsame Silbermünze auf dem Boden eines pechschwarzen Teichs.
Und dort begann sie zu tanzen.
Auf den Dächern der Stadt, springend von Haus zu Haus, warf sie atemlos ihre Gliedmaßen umher, ohne genau zu wissen, was sie tat; sie blickte zum Himmel empor und ließ ihr Gelächter den Wind übertönen. In diesem Moment war sie glücklich, in diesem Moment vergaß sie ihre goldenen Träume und hieß ihre Welt zum ersten Mal willkommen. Sie sah die Schönheit in jeder dunklen Gasse, in jedem gesprungenen Fenster, in jedem abgewohnten Haus. Denn in dieser Nacht, auf diesen Dächern erkannte sie: die Welt würde sich weiterdrehen, ob Agnes sie liebte oder nicht. Für das Universum war sie unwichtiger als ein einzelnes Sandkorn am Strand, ein einziger Wassertropfen im Ozean. Doch genau deshalb musste sie lernen, die Welt zu lieben: nicht um anderer willen. Um ihrer selbst willen. Denn wem schadete es, wenn sie ihre Augen nur auf die Armut, auf die grauen Tage, auf die eingestürzten Häuser richtete, außer ihr selbst? Der Einzige, der mir im Weg steht, bin ich selbst, flüsterte sie sich zu; die Welt ist ein Meer, und anstatt den Horizont anzublicken, betrauere ich die Küste, die ich längst verlassen habe.
William – Mahia, 1904
Die Muscheln, die William aufgehängt hatte, klirrten im Wind. Das Dünengras glich dem sich kräuselnden Wasser des Flusses, der an diesem Strand ins Meer mündete; die aufgehende Sonne bemalte den Himmel mit sanften Tönen von Zartrosa und blassem Orange.
Das Meer war still, nur hier und da trugen kleine Wellen Schaumkronen, die von der Brise verweht wurden. William saß und starrte auf den Horizont, wie er es jeden Morgen tat. Der Horizont beruhigte ihn: unverändert, stetig, an manchen Tagen hellblau, an anderen verfärbt im dunklen Grau eines herannahenden Sturms, doch immer eine einzige, ungebrochene Linie. In diese Meere kamen keine Schiffe.
Vom Häuschen am Strand blätterte mittlerweile die weiße Farbe ab, und das verwitterte, graue Holz kam zum Vorschein; es zog unentwegt, und mit jedem Sturm klirrten die dünnen Fensterscheiben. Doch William liebte das kleine Haus, obwohl es mehrere Stunden von der nächsten Ortschaft entfernt war. Seit vierzig Jahren lebte er hier; es war leerer seit Alice gestorben war, stiller; aber die Stille störte ihn nicht. Den Großteil seiner Tage verbrachte er ohnehin damit, in Gedanken versunken auf der Veranda zu sitzen, oder zu fischen. Stille war für ihn ein alter Freund; der Stille konnte er von seinen Erinnerungen erzählen, Erinnerungen an Alice, an seine Familie, an seine Kindheit.
Auf dem Grab seiner Frau hatte er vor Jahren Lilien gepflanzt; sie waren gewachsen, doch nie hatte er Blüten gesehen. Der Wind wehte zu stark, die Erde war zu sandig; trotzdem wuchsen die Pflanzen dort, auf der Düne vor Alices Grabstein, und William pflegte sie. Lilien waren ihre Lieblingsblumen gewesen.
Als er sich aus seinem Stuhl auf der Veranda erhob, krachten seine Gelenke; er war alt geworden. Alt wie das Haus, in dem er lebte, alt wie die Windspiele, die er und Alice einst aus Muscheln gemacht hatten. Er lächelte.
William holte die Gießkanne und machte sich auf den täglichen Weg den Berg hinauf; die Sonne schlich weiter über den Horizont, und nun spiegelte sich der sanft beleuchtete Himmel in all seinen Farben im Meer.
Bald stand er dort, vor dem Grabstein und traute seinen Augen nicht: eine einzige, unbemerkte Knospe war aufgegangen und nun wuchs dort eine zarte weiße Lilie. Eine Zeit lang stand er dort und starrte. Dann lachte er.
Er dachte, im Wind Alices Stimme zu hören: Du bist frei, flüsterte sie, als William mit seinen Fingern über die zierliche, unscheinbare Blüte strich.
Geh deinen Weg und lebe noch einmal; allzu bald wird deine Zeit um sein. Dann werden wir uns wiedersehen. Aber noch ist es zu früh. Noch hast du Geschichten zu erzählen.
Und als die Sonne weiter über das Himmelsgewölbe wanderte, tanzte er. Auf dem feuchten Sand drehte und wandte er sich, stolperte und fing sich wieder. Er sah zum Häuschen, das so melancholisch dem Horizont entgegenblickte, hörte das Klirren der Windspiele, und verabschiedete sich davon. Er wusste nicht, wo er hingehen würde, aber er musste tun, was ihm Alice gesagt hatte: Geh deinen Weg und lebe noch einmal.
Francine – Paris, 1956
Das Licht im Café war sanft und warm; hinter den Fenstern lauerte die klirrende Kälte der winterlichen Nacht. Das amüsierte Gemurmel der Gäste klang wie leise Musik; als sich Francine umsah, nahm sie jedes Detail wahr; den Glanz der Fliesen im Boden, die aufgereihten Flaschen hinter der Bar, die Flamme der Kerze auf ihrem Tisch, die in einem unmerkbaren Luftzug hin und her tanzte. Sie beobachtete im Fenster die Spiegelung der Menschen, die sich über ihre Teller beugten, an ihrem Wein nippten; und hinter dem Glas die Menschen, die so schnell wie möglich vorbeieilten und den Schnee um sich herum aufwirbelten, deren Köpfe unter Hauben und Kapuzen versteckt und gegen den eisigen Wind gebeugt waren.
Mit feinen Linien skizzierte sie alles, was sie sah; sie versuchte, mit dem Bleistift das angenehme Halbdunkel des Kaffeehauses einzufangen, die Bewegungen der Gäste, wenn sie miteinander sprachen.
Eine Zeit lang saß sie so da, mit gerunzelter Stirn über ihr Skizzenbuch gebeugt; bis die Glocke über der Tür ein leises, helles Klingeln von sich gab. Und als sie aufblickte, stockte ihr Atem.
Im Türrahmen stand ein Mann, die Gesichtszüge ganz ähnlich ihren eigenen, mit einer Reisetasche in der Hand und einem Leuchten in den Augen – ein Mann, von dem sie sich vor vielen Jahren zuletzt verabschiedet hatte. Ihr Bruder.
Und nachdem sie einander umarmt und all die Geschichten erzählt hatten, alle Tränen vergossen waren, fanden sie sich in der Kälte wieder, über den Dächern der Stadt; auf der Terrasse des Triumphbogens fiel der Schnee wie Daunen vom Himmel. Die Straßen, die sich wie eine Landkarte vor ihnen ausbreiteten, glühten in der Nacht; dort tanzten sie. Die Geschwister tanzten aus Freude und aus Trauer, und in ihrer Erinnerung tauchten schemenhaft Bilder aus der gemeinsamen Kindheit auf; sie hörten die Stimmen ihrer Freunde, ihrer Verwandten, ihrer Eltern. Familie ist ein unauflösliches Band: als Geschwister begleitet ihr einander in diesem Leben, über jede Entfernung hinweg. Fluch oder Segen, das vermag niemand zu sagen; doch wenn euch alles Glück der Welt verlässt, so habt ihr noch einander.
Jack – New York, 2017
Die U-Bahn war leer; mit lautem Knirschen und Krächzen kam der Zug zum Stehen.
Weder wussten Jack und seine Freunde, wo sie waren, noch kümmerte es sie; er zwängte die Türen auf und überquerte mit leicht wankendem Schritt den Bahnsteig. Als sie die Stiegen hinaufgingen, kam ihnen die kalte Luft entgegen; in der Kälte schien alles klarer, schärfer.
Die Straße glänzte vom Regen, der gefallen war; in Pfützen spiegelten sich die farbenprächtigen Lichter der Großstadt wie die Kreidezeichnungen eines Kleinkindes. Über den Dächern erstreckte sich der Nachthimmel, der sich langsam in der anbrechenden Dämmerung zu verfärben begann.
Die Vier gingen ziellos die Straßen entlang, sprachen, lachten; hin und wieder fuhr ein einzelnes Auto vorbei. Sie passierten geschlossene Türen, hinter denen Musik wie Herzschlag pochte, und mit jedem Atemzug spürten sie das Leben um sich herum.
So gelangten sie zum Fluss: durch die reflektierten Neonlichter der Nacht hatte sich das übliche Braungrau des Wassers in einen Strom aus unzähligen hellen Farben verwandelt, als hätte ein Maler seine Pinsel darin ausgewaschen. Es begann zu nieseln.
Dann entbrach die Sonne dem Horizont, und als die ersten Strahlen den Himmel erhellten, breitete sich ein sanfter Regenbogen im blauen Halbdunkel der Dämmerung aus.
Um Jack herum drehte sich die Welt; die Farben verschmolzen, er hörte seine Freunde lachen, hörte das Wasser unter der Brücke fließen, hörte seinen eigenen Atem wie den Wind. Und so begann er – wie Agnes, William und Francine vor ihm – zu tanzen; er drehte sich und tanzte über die Brücke; stolperte, spürte den nassen, kalten Asphalt auf seiner Haut, erhob sich und wiederholte alles. Das ist es, sagte er zu sich, als die Bilder seiner Stadt um ihn herumwirbelten; das, wovon sie reden: das ist das Leben.
Der Tanz hört nicht auf. Er wird weitergehen, bis die letzten Sterne erlöschen; getanzt von denen, die wissen, wie es sich anfühlt, Hals über Kopf zu lieben. Nicht nur einen Menschen, sondern die ganze Welt.
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