Die Tänzerinvon Philipp Lang
Allein an einem Abgrund, an diesem Loch aus schroffen Kanten, wo sich der Sturm und das Meer treffen…
Die Tänzerin steht auf der dunklen Bühne. Der Vorhang, ein schwarzer Schleier, verdeckt die Welt. Sie versucht sich zu beruhigen, in sich zu gehen und alle Vorwarnungen auf ein Gewitter, einen Sturm ihrer Gedanken, zu verdrängen. Die Welt ist ruhig hier. Alles was sie erlebt hat versucht sie beiseite zu schieben, denn es liegt zurück, manches weiter als anderes. Nun muss sie an das denken, was vor ihr liegt. Sie tut einen Schritt. Um sich aufzuwärmen. Um sich zu beruhigen. Und noch einen Schritt. Leichtfüßig tänzelt sie in der Dunkelheit, diesem dunklen machtausstrahlenden Nichts. Das Licht wird bald kommen. Doch nun schweigt die Welt noch.
Eine Erinnerung, zuckersüß und leidenschaftlich flackert wie eine Kerze in ihrem Inneren. Sie erleuchtet die Welt um sie herum: Ein glitzernder See am Rande der Zivilisation. Eine Sonne, die sich im Wasser spiegelt – ein strahlender Glanz, der die Welt erleuchtet. Sie sitzt in einer Blumenwiese am Ufer dieses Sees.
Er streicht ihr über die Wange. Er sitzt vor ihr. Nackt. Und sie schaut ihn an. Nackt. Die natürliche Blöße. Eine Peinlichkeit und ein Akt des Vertrauens zugleich. Sein Streicheln bewegt sich weiter, zu ihrem Hals und dann an der Schulter den Arm entlang, bis sich seine warmen Finger in den ihren den richtigen Platz finden. Sie rutschen näher zueinander und können ihre Wärme spüren. Wie zwei Sonnen, die in einem Orbit umeinanderkreisen. Sie starrt zu dem Himmel hinauf und sieht die weißen, unschuldigen Wolken. Willkommen im Paradies, denkt sie.
Als sie so nebeneinanderliegen und dann aufeinander, da scheint es, als würde der Wind, der durch das hohe grüne Gras weht, in engelsgleichen Stimmen flüstern, die sie nicht versteht und doch begreift. Und sie schaut wieder in den Himmel, starrt die konturlose, blaue Scheibe über ihr an.
Als sie wieder nebeneinanderliegen und die Sonne auf ihre nackten Körper scheint, wirkt es fast friedlich. Eine Momentaufnahme einer perfekten Welt. Ein kleines Schiff auf einer ruhigen See oder ein leichtfüßiger Balanceakt hoch über den Wolken. Sie dreht ihren Kopf und schaut ihn an. Er hat die Augen geschlossen, seine braunen Haare fallen ihm ins Gesicht. Sie berührt seine Wange und er öffnet seine Augen. Sie sind grün, dunkelgrün, mit einem Stich von Braun. Er schaut sie an und urplötzlich erkennt sie etwas. Ein Geheimnis versteckt sich hinter einer wunderschönen Maske. Verpackt in ein glitzerndes Geschenkpapier: Das Verlangen, das hungrige Verlangen nach Macht und Besitz. Als sie blinzelt ist das verräterische Aufblitzen wieder verschwunden. Doch ihre erschrockene Miene hat er bemerkt. „Was ist?“, fragt er. Sie schüttelt den Kopf. Er lächelt leicht, wie er es immer tut und nimmt sie in die Arme. Er lässt sie lange nicht mehr los. Sie jedoch hebt ihren Blick ein weiteres Mal zum Himmel, wo sich dunkle Wolken zusammenbrauen. Die Sonne ist nicht mehr wärmend, nun ähnelt sie einem heißen Dolch, der auf die Erde niedersticht. Sie taucht tiefer in die liebevolle Umarmung ihres Geliebten ein, als sie ihrerseits in eine längst zurückliegende Erinnerung eintaucht. Halt mich fest, denkt sie. Halt mich fest und lass mich nie wieder los.
Sie ist in ihrem Zimmer, sitzt in einer stillen Ecke und betrachtet die Tür. Mutter ist krank, das weiß sie, auch wenn ER es ihr verboten hat, zu ihr zu gehen. ER. Sie starrt die Tür an, weil sie Angst hat, dass sie SEINE Schritte hört. Doch was macht sie nur, wenn diese wie Paukenschläge vor der Tür ertönen? Das weiß sie noch nicht. In ihrem Refugium fühlt sie sich sicher. In ihrer kleinen rosa Welt aus Puppen und Spielzeug und Einhörnern und Feen. Sie hat Angst, doch tief in ihrem Inneren spürt sie so etwas wie Mut. Zur Beruhigung denkt sie an eine Blumenwiese, eine Blumenwiese aus Rosen und Regenbögen und vielleicht auch Einhörnern. Sie eilt durch diese Welt, formt Kreise und springt dem glitzernden Himmel entgegen. Doch plötzlich entspringt einem weißen Baum vor ihr eine Schattengestalt mit breiten Schultern, großen Händen, die sich ihre entgegenstrecken, und einem Grinsen, das wie eine Sichel, die Welt durchschneidet. Sie wirbelt aus ihrem Tagtraum und da ertönt, vorerst noch fern, das leise Dröhnen schwerer Schritte. Es ist wie ein Erdbeben, das den kleinen rosa Raum in Stück reißen könnte und sie drückt sich noch tiefer in ihre Ecke. Einerseits empfindet sie Angst, alles einnehmende, unbesiegbare Angst… und andererseits spürt sie auch so etwas wie Hoffnung. Hoffentlich zieht ER vorbei. Hoffentlich will ER ihr nur Angst machen. Hoffentlich möchte ER ihr nicht wehtun. Als die Schritte direkt vor der Tür ertönen stoppt das Donnern urplötzlich… und das kleine Mädchen atmet aus. Sie atmet langsam wieder ein und spürt wie das Donnern in ihrem Herz weitergeht. Sie richtet sich zaghaft auf und… die Tür wird aufgerissen. Der GROSSE MANN, die Schattengestalt mit ihrem grausigen Grinsen, steht ihr gegenüber.
Die Tänzerin taumelt aus der Erinnerung und auf eine in Dunkelheit liegende Bühne. Sie setzt wieder zu einem eleganten Sprung an und landet leichtfüßig. Nur das sanfte Tappen ihrer weißen Füße auf dem schwarzen Boden unterbricht die Stille der wartenden Welt. Kreise zu bilden und zu schließen, das ist wichtig, wenn man durch das Schwarze taumelt, wenn man eine Pause braucht. Das gibt der desorientierten Seele einen Anhaltspunkt. Beim Tanzen werden keine halben Sachen gemacht, nur abgeschlossene Figuren, Rosenknospen, die in einer Bewegung zu erblühen scheinen.
Der Tanz wird schneller und wilder.
Im Tanz wirbeln die Haare der Tänzerin herum und die Enden ihres Kleides greifen nach der Dunkelheit. Als sie sich wieder beruhigt hat und sich sicher fühlt, versucht sie wieder, in die Erinnerung einzutauchen. Sie stellt sich die Szene vor ihrem inneren Auge vor und die Dunkelheit um sie herum wirkt als eine Leinwand. Sie kehrt zurück in den rosa Raum.
Der GROSSE MANN grinst sie an, doch ER findet es ganz sicher nicht komisch. Nein, ganz und gar nicht. ER scheint sich zu beherrschen und an seiner Stirn kleben Schweißtropfen. Der beißende Geruch des Alkohols dringt bis in die dunkle Ecke des Mädchens vor. ER tritt einen Schritt auf sie zu und sie weicht noch weiter zurück, obwohl es nicht mehr geht. ER sagt: „Ach Kleine, du braucht doch keine Angst vor mir haben.“ ER kichert. Wie ein verrücktes Pferd. „Du musst mir nur eine einfache Frage beantworten.“ Noch ein Schritt. „Bist du noch mein braves Mädchen?“. Ein dritter. „Bist du noch Daddy´s Mädchen?“ Das Mädchen schaut ihren Vater mit zugekniffenen Augen an und fixiert ihn. Mit all ihrem Mut, den sie aufbringen kann. „Nein“, sagt sie entschieden. „Nein.“ Die rosa Farbe scheint abzublättern von einem Gerüst aus Knochen. „Ich bin nicht dein Mädchen.“ Sie sammelt all ihre Kräfte wie ein Tier, das in die Enge getrieben wurde. Sie fokussiert sich auf den Weg, der vor ihr liegt und rast dann los. Sie drückt sich blitzschnell an ihrem Vater vorbei durch den schwarzen Spalt zwischen ihm und dem Türrahmen und eilt in Sicherheit.
Und Sicherheit ist das Zauberwort. Vor einem Auftritt ist es wichtig, zwar ein bisschen nervös zu sein, doch auch sich sicher zu fühlen. An sich selbst zu glauben. Das hat die Tänzerin schon oft genug erlebt. Und plötzlich ist die Dunkelheit weg. In einem Augenblick, einem Wimpernschlag, hebt sich der Vorhang und gleißendes Licht durchströmt ihre Gedanken. Alles ist nur noch mehr Weiß. Doch dies lässt sie nicht taumeln, denn darauf hat sie gewartet. Auf den richtigen Augenblick. Sie nimmt den Schwung des Neuen auf und verarbeitet ihn in eine Bewegung. Als sie ihre Augen wieder öffnet, erblickt sie ein Fischglas, das jemand im hinteren Eck der Bühne vergessen hat. Und in diesem sitzt ein Fisch in der Leere des Wassers und betrachtet sie. Er ist stumm, unbeweglich und Luft holen muss er schon gar nicht. Und seine Augen reflektieren den Blick der Tänzerin, den sie ihm entgegenwirft. Ein Ausdruck der Enge, des Unbehagens und des gleichgültigen Nichtstuns. Sie beide sind Gefangene in dieser Welt, innerlich zerrissen durch das Flüchten und dem Blick durch die getrübten Glasfenster einer sich im Kreis drehenden Welt.
Allein an einem Abgrund, an diesem Loch aus schroffen Kanten, wo sich der Sturm und das Meer treffen, wo die Zeit still zu stehen scheint da türmt sich eine Frage auf: Kann ich noch weiter? Und da ertönt die einfache Antwort eines kollektiven Publikums: Setz einen Schritt vor den anderen, zuerst kleine, dann immer größere, dann wirst du sehen, ob du tanzen kannst.
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