Die Uhr, die rückwärts tickt.
Die Uhr, die rückwärts tickt. So lange, bis sie fast erstickt. Nicht Tick Tack. Tack Tick.
Halb zehn Uhr abends, die Leute werden immer weniger. In der Luft hängt der Duft ihres Parfums, während sie am Boden zusammenbricht. M weiß nicht viel und sie weiß nicht, wie es so weit kommen konnte. Die Nachricht, die Buchtstaben. Brennen in ihren Augen, die sie nur noch geschlossen lassen will. Sekunden ändern Stunden. Wenn er doch nur noch für eine letzte Sekunde bei ihr wäre.
Acht Uhr und ein paar Minuten, von denen ihr Menschen sagt, sie zählen nicht. Ein Zug fährt ein, Menschen steigen ein, Menschen steigen aus. M und L gehen miteinander zu den Türen, Hand in Hand, bis L wegfährt. Sie sagen, sie seien nur Freunde, warten auf ein besseres Morgen, von dem ich weiß, dass es nicht kommen wird. Jung sind sie. Immer jünger werden sie.
Dreiviertel sechs, M geht jetzt langsam auf L zu, duftender Kaffee in ihrer Hand. Er reibt seine Hände aneinander, würde sie gerne vor der Winterskälte schützen. Ein Kind rennt schreiend an ihnen vorbei, ein anderes hinterher, L blickt lange nach. Wie ein Spiegel in die Vergangenheit. Wie sie beide einmal waren.
Vier Uhr, sie sind viel zu früh, wollen die letzten Minuten miteinander genießen.
„Es war wirklich schön, dich wiederzusehen“, sagt M und ihre Augen haben das Funkeln, das sie nur bei ihm haben, „also so wirklich, meine ich.“ L nickt, er will etwas sagen, will mehr machen, als eine bescheuerte Geste, stattdessen sieht er nur auf seine Hand: „Schon so spät.“ Ohne Kontext.
Drei Uhr, L und M, lachend über etwas.
Zwei Uhr, sie treffen sich zum Essen, ich weiß nicht viel, aber ich sehe, wie sie lächeln. Ich sehe, wie M bei ihm nicht geschminkt ist und ich sehe, wie er bei ihr das erste Mal das Gefühl hat, darüber reden zu können, wie es ihm geht.
Ein Uhr nachmittags. Sie sagt ihrem Boss, die extra Arbeit wäre kein Problem, obwohl sich Berge von Papier auf ihrem Tisch türmen. Einfach durchziehen. Sie schreibt ihrer Nichte, dass sie es nicht schafft, dass wieder einmal etwas dazwischenkommt. M hätte die Chance, es wieder gutzumachen, sicher hätte sie das. Wann, weiß sie nicht.
Es ist zwölf Uhr. Er hat die Nachricht an sie fertig geschrieben. L ist keiner, der halbe Sachen macht. Von einem Meeting ins andere, eine Stadt, dann die nächste. Das soll nur eine andere E-Mail sein, eine wie die vielen, die er geschrieben hat, seit er es weiß.
Elf Uhr, das Einzige auf das L sich heute freut, ist, sie endlich wiederzusehen. Nie hatten sie Zeit, nie war die Zeit auf ihrer Seite. Davor würde er arbeiten gehen, aber dann würde er es ihr sagen. Seine letzte Chance. Er grüßt die alte Frau, bei der L wohnt, wenn er in der Stadt ist. Gerne würde er sich bei ihr mal anders bedanken als nur mit Geld. Die Zeit ist auch nicht auf ihrer Seite, wird immer kostbarer. Gerne würde er ihr Blumen bringen, doch er schafft nur ein Hallo. L weiß nicht, was man anders macht, am letzten Tag seines Lebens.
Tick. Tack.
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