Die Uhr tickt
Mein gesamtes Leben lang habe ich noch keine Pause gemacht. Keine einzige Minute ist vergangen, ohne dass ich meinen Teil beigetragen habe, keine einzige Sekunde habe ich stillgestanden.
Wenn ich mich ausruhe, ist alles aus.
Es ist eine große Verantwortung, und ich habe sie mir auch nicht ausgesucht. Immerhin trage ich sie nicht allein.
Zwei andere haben dasselbe Schicksal wie ich. Wir sind alle recht unterschiedlich und doch sitzen wir hinter demselben Glas. Ich betrachte sie gern als meine kleinen Geschwister.
Sie verstehen die Bürde, die auf mir lastet, zwar, und haben ein ähnliches Schicksal, aber sie werden es niemals vollständig erfassen können.
Der Kleinste von uns rennt so viel langsamer als ich, dass ich ihn nie recht mustern kann. Es vergeht keine Minute, dass ich ihn nicht sehe, aber ich werde ihn wohl erst dann richtig kennenlernen, wenn die Zeit stillsteht und die Welt eingefroren ist, wenn wir uns nicht mehr um den Mittelpunkt unserer kleinen Existenz bewegen.
Auch den Mittleren kenne ich kaum, auch er bewegt sich langsamer als ich. Aber ich weiß, er hat Mitleid mit mir, mit meinem Schicksal, ist mir manchmal sogar dankbar für meine Arbeit. Ohne mich wäre er verantwortlich für den Kleinsten, ohne mich müsste er den Takt vorgeben, ohne mich müsste er perfekt laufen.
Wir laufen wie ein Uhrwerk, wir laufen dank einem Uhrwerk, und es ist nicht leicht. Es sieht vielleicht so aus, aber vertraut mir, das ist es nicht. Es ist Knochenarbeit.
Manchmal bin ich sogar zu erschöpft, um darüber nachzudenken. Dann laufe ich nur noch, laufe vor meinen eigenen Gedanken davon, die sich sowieso nur im Kreis drehen. So wie ich. Ich drehe mich doch nur im Kreis.
All die Schritte, die ich mache, werden mich keinen Meter weg von meinem Platz bringen. Glas ist alles, was meine Welt begrenzt, und doch kann ich es nie durchbrechen. Ich weiß, dass andere es könnten, andere, die mir durchs Glas durch beim Rennen zuschauen, aber die wollen es nicht. Warum sollten sie auch? Ohne meine Präzision wären sie aufgeschmissen.
Was mir bleibt, ist das Rennen, die unheimliche Geschwindigkeit, sechzig Schritte pro Minute, keiner mehr, keiner weniger.
Aber ich bin nicht allein, wir sind zu dritt. Wir schlagen mit dem Puls der Zeit, und solange ich noch renne, werden wir auch nie damit aufhören.
Wir können nicht aufhören, wir dürfen nicht. Denn wenn ich stehenbleibe, bleibt alles stehen. Was für einen Sinn habe ich, wenn ich keine Sekunden mehr zählen kann? Was soll ich zeigen, wenn ich die Zeit nicht mehr weiß? Was kann ich auch anderes, als zu laufen?
Laufen und denken, zählen und schlagen. Seit meiner ersten Sekunde habe ich nichts anderes mehr gemacht. Zu endgültig wäre es, stehenzubleiben.
Ich will meine Geschwister nicht enttäuschen, ich will die Welt außerhalb des Glases nicht enttäuschen.
Und ich renne weiter. Kann ich noch? Solange mir die Batterie nicht ausgeht, auf jeden Fall.
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