Die Wand und ich
Die Bilder auf meiner Wand sind wie Fenster. Fenster in meine Vergangenheit, meine Leidenschaften, kurz: mein Innerstes. Jetzt, wo ich so weit weg bin von allem, was ich gekannt, geliebt habe, brauche ich sie, um mich daran zu erinnern, wer ich bin. Von jedem Ort, den ich besucht habe, ist ein Stück mit mir gekommen, jede Person, mit der ich gelacht habe, hat einen Lichtstrahl hinterlassen. In meinem Kopf und auf meiner Wand tummeln sich die Erinnerungen an schöne und auch schwere Stunden, in Form einer Collage.
Wer also wissen will, was für ein Mensch ich bin, muss nur auf meine Wand sehen. Oder nicht? Diese Bilder, diese in Tinte und Papier eingefangenen Momente, sind das, was mir wichtig ist, ja. Aber was bedeutet ein rosa Pfirsich für jemanden, der diesen Moment nicht mit mir geteilt hat? Und niemand außer mir kann wissen, was es mit einer Biene auf streifigem Grund auf sich hat. Ich selbst bin es, die diesen Farben und Formen eine Bedeutung gibt.
Ich möchte, dass meine Wand mein bisheriges Leben widerspiegelt. Aber die Menschen, die ich jetzt kennenlerne und in mein kleines Mäuseloch von einem Zimmer einlade, sie sollen ein bestimmtes Bild von mir haben. Das ist ein Neustart für mich, ein unbeschriebenes Blatt Papier. Ich möchte Ich sein, aber vielleicht ein anderes Ich als zuvor, als das, das ich zu Hause war. Wie viel Veränderung ist möglich, ohne eine ganz andere zu werden, eine, die nur mehr meinen Namen trägt?
Und was sagt es über mich aus, dass ich diese Sammlung mit viel Sorgfalt kuratiert habe, sodass alles ästhetisch und adrett wirkt? In mir sieht alles ganz anders aus, nichts ist farblich sortiert, Ecken und Kanten stoßen aufeinander und Größe und Form ignoriere ich ganz einfach. Anscheinend sind die Geradheit und Symmetrie, die von uns allen in unserem Leben erwartet wird, schon so tief in mir verankert, dass mir nicht einmal der Gedanke gekommen ist, meine Wand anders zu gestalten. Im Zeitalter von „Clean Girls“ und Streben nach Perfektion scheinen wir vergessen zu haben, dass „Mensch-Sein“ das genaue Gegenteil ist.
Ich bin sicher, dass meine Wand in zwei Jahren ganz anders aussehen wird. Sie wird sich verändern, um die Veränderungen in mir zu widerzuspiegeln. Und wer weiß, vielleicht habe ich dann sogar den Mut, meiner Bildersammlung mehr von meiner eigenen Menschlichkeit einzuhauchen?
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