Die Welt ist eine Scheibe
Knöchel treten weiß aus seinem Fleisch hervor, Adern pulsieren. Silber schimmernde Haut benetzt von Schweißperlen und ein Hauch von Staub, der jeden Atemzug beißend scharf schmecken lässt. Die Hitze hier ist unerträglich drückend und jede körperliche Anstrengung wird zur Qual. Ein wolkenloser Himmel, wie dieser, führt zu Blasenbildung auf der Haut. Schmerzen, die es einem nicht möglich machen, sich mit der Frage des Warums auseinanderzusetzen.
Er wendet seinen Blick vom endlosen Blau ab und wieder dem trockenen Boden zu. In unregelmäßigen Abständen häufen sich im Staub Buchstaben ohne bestimmte Ordnung oder Muster. Sie bestehen aus einem Material, das er mit Worten nicht zu beschreiben vermag.
Seine bereits wunden Hände wischen ein glänzendes „e“ und ein „b“ zur Seite, um darunterliegende Zeichen zum Vorschein zu bringen. Als seine Augen finden, was sie suchen, blitzen sie in einem Anflug von Befriedigung auf. Hastig schaufelt er Gefundenes auf den kleinen Wagen, der mit Hilfe eines Stricks an seinem Handgelenk befestigt ist.
Wie von einer inneren Kraft gesteuert, bewegt er einen Fuß vor den anderen und setzt dabei kontinuierlich seine Arbeit fort. Über seine Aufgabe ist er sich im Klaren. Nicht etwa durch Informationsaustausch mit den anderen, für den es die Zusammensetzung von Buchstaben zu Wörtern benötigt hätte. Nein. Viel eher ist sein Platz im System, wie ein Baum im Boden, tief in ihm verwurzelt.
In unmittelbarer Nähe arbeiten die anderen. Es müsste möglich sein, sie mit einer ausgestreckten Hand zu berühren. Was wenn? Allein der Gedanke ist verwerflich. Aufmerksamkeit hindert und ist ungewollt, heißt es. Die Spitze seines Zeigefingers juckt in einem Augenblick der Versuchung. Würde der Körper es zulassen? Ist er der Einzige, in dem es brodelt? Kann man ausbrechen? Verzweiflung flammt auf und wird erneut in den Hintergrund verschoben. Nach Außen wird zusammengehalten, was im Inneren vorgeht. Er hält Distanz. Vielleicht morgen.
Und so gehen sie, als Menge in gemäßigtem Tempo, stetig auf die Kante zu. Einer nach dem anderen fällt und verschwindet auf ewig. Die Stille, mit der es geschieht, schreit. Zurück bleibt nur ein angesammelter Haufen Wörter, nie in den Mund genommen, nie Bedeutung gegeben und nie Emotion verliehen. Eine Ansammlung von Möglichkeiten, die für immer ungenutzt bleiben wird. Über dem Krater verdunkelt sich der Himmel unter einer Wolke. Es beginnt zu regnen. Buchstaben aller Größe fallen, erst langsam, dann immer schneller.
Etwas ist anders und würde nur einer von ihnen die Fähigkeit des Lesens besitzen, würde er erkennen, dass die Wolke von einer Aufschrift geziert ist: „Können wir noch?“ Vielleicht würde er seine Lippen bewegen. Vielleicht.
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