Die wilde Kerlin
Ich gehörte nie zu den Mädchen. Ich gehörte zu den Freien. Sie waren die, über die die Nachbarschaft schimpfte, sie waren die, die sich vor niemandem fürchteten, sie waren die wilden Kerle. Ich wollte auch dazugehören. Aber es gab keine wilde Kerlin.
Die Mauer warf mich zum fünften Mal ab. Ich trat gegen die Steine. Die Schritte und das Geschrei der Bande hatte der Bach längst verschluckt. Schulterzuckend klopfte ich mir Erde und Fichtennadeln vom Hosenboden und stolzierte den Weg zurück. Sie würden nicht mal bemerken, dass eine Teilnehmerin des Wettlaufes fehlte.
Sie kamen vor der letzten Stunde in die Klasse gestürmt. Tornado. Sie spielten mit Federpennals Ball, zerzausten den Mädchen das Haar, verschoben die Tische, kritzelten auf die Tafel und stahlen Hauspatschen. „Hallo Marie!“, riefen sie. Ich wusste ihren Klauen auszuweichen. „Wir schwänzen jetzt! Kommst du? Oder traust dich nicht?“ Ich packte meinen Ranzen, um für eine Stunde mit dem Tornado durchs Dorf zu fegen, beim alten Hermann Äpfel vom Baum zu fladern und sie in der selbstgebauten Hütte im Wald zu essen.
Ich saß auf dem Küchentisch, die zerrissenen Hosenbeine hinaufgekrempelt, Dreck an den Beinen, den Armen und im Gesicht. Es war Nacht, die Eltern schliefen. Die Schwester zupfte mir einen Fichtenzweig aus dem Haar, bevor sie mit einem Lappen die Schürfwunden an den Knien sauber tupfte. Heute fragte sie, wer mich nach Hause gebracht hatte. Paul, sagte ich. Ich erzählte ihr nicht, dass die wilden Kerle mich wieder holen gekommen waren und ich ihnen für ihre Spiele in den Wald gefolgt war. Sie wusste es auch so und verriet nichts den Eltern. Sie prüfte immer mit einem schnellen Blick auf meine Wangen, ob ich geweint hatte. Ich weinte nie.
Paul. Paul schaute sich um, wenn wir vor dem schimpfenden Nachbarn wegliefen und meine Beine wie immer die kürzesten waren. Paul grinste, wenn ich einen schlagfertigen Kommentar auf eine Beleidigung von Kian parat hatte. Paul wartete hinter der nächsten Hausecke auf mich, wenn sie alle bei einem Klingelstreich plötzlich weg waren und ich den Ärger ausbaden musste.
Paul war der Erste, der mich an der Hand nahm, anstatt mich aus dem Weg zu schubsen.
„Verdammt.“ Die Kette von Kians Mutter glänzte im Gras hinter dem Zaun. Das Schatzjägerspiel war ernst geworden, jetzt bewachte Arko den Zugang. „Jemand muss ganz schnell die Tür zur Hundehütte zuschlagen und verriegeln.“ Die Jungs schüttelten alle die Köpfe und wichen zurück. Feiglinge. „Ich mach‘s.“ Ich war flink. Als das Hundegebell losging, nahmen die wilden Kerle die Beine in die Hand. Nur einer nahm die Kette in die Hand, rief „Lauf!“ und folgte mir auf den Fersen, bevor das Licht im Haus anging.
Paul und ich fanden einen alten Wohnwagen und bauten unsere eigene Hütte. Wir klauten unsere eigenen Äpfel, machten unsere eigenen Nachtstreifzüge. Wir spielten unsere eigenen Spiele, verbanden uns die eigenen Schürfwunden.
Ich war eine wilde Kerlin. Aber ich fügte mich keinem Rudel.
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