Die Wut
Er betrachtete sein Werk, obgleich es ihn an sich zweifeln ließ: Auf dem ganzen Küchentisch lagen Zeitungsschnipsel, an manchen Stellen war die Zeitung mitsamt kleinen Teilen des Tisches seinem Feuerzeug zum Opfer gefallen und war nun verkohlt und verbrannt. Die Fensterscheibe hinter dem Tisch hatte ein Loch, welches er anscheinend durch das heftige Werfen eines Sessels erzeugt hatte. In die Küche traute er sich gar nicht erst zu blicken. Als sein Blick auf den Boden schweifte, verzweifelte er endgültig, denn er sah sein zerstörtes Tablett zwischen den Zeitungsschnipseln.
Beim Versuch, sich daran zu erinnern, warum er alles demoliert hatte, scheiterte er anfangs kläglich. Erst als er ein noch halbwegs ganzes Stück Zeitung in die Hand nahm und das einzige Wort darauf entschlüsselte, kamen seine Erinnerungen teilweise zurück. Bei dem Wort handelte es sich um „Sicherheit“.
Er musste sich ein bitteres Lachen verkneifen. „Diejenigen, die ihre Machtfelder durch sogenannte ‚Sicherheit‘ für das Volk vergrößern wollen, sind diejenigen, die es eigentlich nur kontrollieren wollen“, hatte ihm schon sein Vater gesagt, der als DDR-Bürger fast sein ganzes Leben lang überwacht wurde. Und jetzt? So viele Jahre später war die Menschheit durch ihre Dummheit wieder am Anfangspunkt angekommen, und das machte ihn wütend.
Er nahm noch ein ganzes Stück Zeitung in die Hand.
„Ausnahmetalent“ stand darauf geschrieben. Diesmal wollte er seine Emotionen gar nicht erst unterdrücken und fing einfach zu weinen an. „Wenn jemand, der zur Gänze untalentiert ist, von allen Seiten als ‚Ausnahmetalent‘ bezeichnet wird, verwandelt er sich in den dummen Blicken der Menschen zu einem.“
Als er das Wort „Korruption“ auf einem dritten Stück Zeitung erkannte, erinnerte er sich an das Werfen des Tabletts. „Ach, die Korruption. Wer soll denn noch wissen, was zu wählen ist, wenn sowieso alle durch ihr korruptes Verhalten im Endeffekt die gleichen Interessen vertreten? Und die dumme – die dumme, breite Masse duldet dieses Verhalten!“ Und das machte ihn wütend.
Doch aus dieser Wut heraus hatte er selbst eine dumme Tat begangen: Er hatte Hals über Kopf sein sündhaft teures, nagelneues Tablett zerstört. Er bückte sich und berührte mit seinen Fingerspitzen die scharfen Sprünge im Display. Er ärgerte sich.
Aber war diese Tat wirklich so dumm, wie er im ersten Moment gedacht hatte? Wie schon im Film „Der große Diktator“ gesagt wird, haben Erfindungen wie das Radio Verbindungen zwischen Menschen geschaffen, und diese Verbindungen erfordern eine Brüderlichkeit. Aber wenn diese Brüderlichkeit nicht vorhanden ist, lohnt es sich dann überhaupt in diesem System mitzuwirken?
Denn, seien wir einmal ehrlich, diese Brüderlichkeit existiert nicht. Jeder ist immer nur auf sein Wohl bedacht – niemand denkt an die Gesellschaft. Niemand will am Glück des anderen teilhaben, sondern sein eigenes Glück vermehren. Und das, genau das, macht mich wütend.
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