Die Zahl Hundert
Ich weiß nicht, wie lange ich nun schon in diesem Raum sitze. Stunden, Tage? Es fühlt sich wie eine Ewigkeit an. Der Raum ist klein, viel zu klein, sodass die anderen, die mit mir im Raum sitzen, fast keinen Platz finden. Ich kenne die Anderen nicht. Sie sind fremd für mich, obwohl ihnen das selbe Schicksal blüht wie mir. Sie suchen hier Schutz vor den bösen Männern, die unsere Stadt verwüsten und die uns Angst machen.
Es ist ziemlich dunkel hier im Raum und ich habe Hunger. Es gibt keine Fenster, und ich stelle mir vor, wie es wäre, endlich wieder draußen zu sein. Frei zu sein. Sonnenstrahlen strahlen mir ins Gesicht, ich renne mit meinen Freunden im Garten um die Wette. Die Sonne scheint so stark und es ist so warm, dass Mama mich ruft und mahnt, meine Schuhe anzuziehen, da der Boden sonst viel zu heiß für meine kleinen Füße wäre. Sie hilft mir die Schuhe anzuziehen und sagt, dass ich wieder zum Abendessen zurück sein soll.
„Bist du alleine hier?“ Als ich wieder aus meinen Tagträumen erwache, sitzt eine junge Frau vor mir und sieht mich an. Sie spricht so leise, dass ich sie kaum verstehe. Ich nicke bloß. „Wie alt bist du?“ , fragt sie. Eine dunkle Haarsträhne fällt ihr ins Gesicht und sie streicht sie mit einer Handbewegung hinters Ohr. Ihre Hände sind ganz schmutzig, von dem Dreck der am Boden liegt, ebenso ihre Kleidung. Ich antworte ihr nicht, sondern starre auf den Boden. „Sie ist sieben“, antwortet eine andere Frau, die in einer Ecke des Raume sitzt und das Gespräch belauscht hat. „Ich kenne ihre Eltern“. „Wo sind denn deine Eltern?“ , fragt die Frau mich. „Die kommen bald“, sage ich entschlossen. Mama hat mir versprochen, dass sie bald kommen. Direkt nachdem sie mich hier abgesetzt hat und mir aufgetragen hat, hier zu warten. Und sie werden kommen, das weiß ich.
Ein großer Knall ertönt von draußen und ich zucke zusammen. Die Wände des Raumes beginnen für einen kurzen Augenblick zu wackeln. Die Kinder beginnen zu schreien und eine Frau weint. Ich vergrabe mein Gesicht in meine Arme und stütze sie an meinen Beinen ab. In meinen Gedanken bete ich: „Geh bitte!“ und ich beginne, wie schon so oft, bis hundert zu zählen, bis es vorbei ist.
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