Drei Schritte
Seine Füße zitterten vor Aufregung, seine Hände waren feucht vor Angst und die Haare klebten ihm verschwitzt im Gesicht.
Noch drei Schritte und er hatte allen seinen Mut bewiesen.
Noch drei Schritte und er würde zu den Großen gehören.
Seine Brustkorb schien zu explodieren und seine Beine protestierten weiterzugehen.
Er drehte sich um und sah, wie die Jungs gelangweilt im Gras saßen. Er ärgerte sich, dass keiner ihm zusah. Lieber schickten sie sich gegenseitig Nachrichten.
Nur einer hob kurz den Blick von seinem Display und verdrehte daraufhin die Augen. „Das Nesthäkchen traut sich nicht“, spottete er und lachte. Die anderen sahen auf und schüttelten nur enttäuscht die Köpfe.
Wütend ballte der kleine Junge die Hände zu Fäusten und machte einen Schritt nach vorne.
„Noch zwei. Kann doch nicht so schwer sein“, dachte er.
Sein Herz raste und Tränen liefen ihm über sein Gesicht, als er verzweifelt versuchte sich zu bewegen.
Eine schluchzende Stimme riss ihn aus seinen Gedanken zurück in die Gegenwart. „Bitte! Bitte, geh nicht!“, hörte er seinen Freund jammern und klagen.
Traurig starrte er auf den Boden. Er verstand nicht, weshalb sein Freund sich so dagegen wehrte, zu den „coolen und großen Jungs“ zu gehören.
„Dem werde ich es zeigen, wie stark und mutig ich bin. Wenn er sich nicht traut, dann bleibt er eben ein Nesthäkchen. Ich werde heute Abend ein echter Mann sein.“
Adrenalin pumpte durch seine Adern beim nächsten Schritt.
Er ärgerte sich über seinen Freund, der ihm nicht vertraute, über die Mädchen in seiner Klasse, die ihn wegen seiner kleinen Statur auslachten und über seine Familie.
Seine Schwester, die ihn zu uncool fand, um ihm ins Gesicht zu sehen. Seinen Vater, dem er seit Jahren nicht mehr nüchtern begegnet war, der ihn immer wieder schlug, wenn er am Grab seiner Mutter saß und weinte, anstatt in die Schule zu gehen. Seit ihrem Tod war er nur noch traurig.
Ein leichtes Lächeln schlich über sein Gesicht, als er an sie dachte.
„Du warst die Einzige, die mich so mochte, wie ich bin“, murmelte er leise in seinen wollig weichen Schal, der dick um seinen Hals gewickelt war, „Du wirst sehen, Mutter, ich werde allen beweisen, wie mutig und groß ich bin. Du wirst mir helfen, auf den Wolken liegen und mich anfeuern. Du wirst mir Kraft geben, um den letzten Schritt zu wagen.“
Mit einem Lächeln auf dem Gesicht schloss er die Augen und ertastete mit den Schuhspitzen das kalte Metall unter sich.
Leise konnte er im Hintergrund die schockierten Schreie der älteren Jungs hören, das Weinen seines Freundes und das Pfeifen eines sich schnell nähernden Zuges.
Danach folgte Stille.
Er bekam das Schluchzen an seinem Totenbett nicht mehr mit. Seinem harten Vater rannen Tränen über die Wangen. Seine Schwester kniete trauernd davor und schniefte in ein altes Taschentuch. Sein einziger Freund weinte und jammerte vor sich hin. Die anderen Jungs waren an dem Tag nicht zu sehen.
Jeder von ihnen gab sich die Schuld an dem Tod des kleinen Jungen.
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