Drei, vier Schritte
„Schreib auf!“, herrscht er mich an. Tropfen treffen mein Gesicht. Kalter Speichel. Ich senke den Blick, schreibe. Nummer 51770, Christianstadt. Die Nächste: „Viel zu schwach.“ Ein flüchtiger Blick – etwa zehn wird die Kleine sein. Dürr, erschöpft, ausgemergelt. 55467, schreibe ich, unbrauchbar. Ein kurzes Leben, denke ich, machtlos.
Die Schlange ist lang. Damen, Frauen, Mädchen. Blicke hetzen, Blicke erstarren, Blicke kleben am Boden. Ein Mädchen mustert mich, sichtlich nervös. Es hätte auch ein Junge sein können, wie so viele. Denn an Entwicklung denkt der Körper nicht. Hier nicht. Er denkt leben.
55423, unbrauchbar. Das Mädchen sieht mich immer noch an. Sie ist sicher nicht alt genug. Ich sehe sie an und stelle mir vor, wie sie erstickt. Denn so muss es sein. So wird es erzählt.
Eine magere Frau ist an der Reihe. Ihre nackten Brustwarzen sind alles, was von ihrer Brust geblieben ist. „Bitte!“, fleht sie. „Sehen Sie meine Tochter an! Sie kann arbeiten! Ebenso gut wie ich!“ Ihre Stimme bricht.
Ich sehe an ihnen vorbei zu dem Mädchen. Ihre Augen halten mich fest. Noch fünf stehen vor ihr. Mein Kopf pocht schmerzhaft. Ich will sie nicht tot wissen. Eine unwahrscheinliche Energie schießt heiß durch meinen Körper. Jetzt oder nie. In drei, vier Schritten bin ich bei ihr. „Wie alt?“ flüstere ich. Hinter mir winselt die Mutter unter Tränen. Das Mädchen zögert. „Dreizehn“, sagt es. Ich sehe sie an. „Fünfzehn. Sag fünfzehn.“
„Nichts kann sie und jetzt verschwinde!“ brüllt er. Drei, vier Schritte und ich bin bei ihm. „Unbrauchbar!“, schnauzt er zu mir herüber. Ich kritzle die Nummer vom Unterarm der Tochter auf das Papier. Mein Herz rast, ich zwinge mich ruhig zu atmen. „Nein!“, fleht die Mutter. „Sie muss mit mir kommen! Bitte!“ Die raue Rückhand des Soldaten trifft sie unerwartet. Sie liegt am Boden. Als sie sich aufrichtet, flüstert sie entschlossen: „Ich bleibe.“
Die Kleine kommt immer näher. Mein Magen krampft sich zusammen. Bloß nicht schwach wirken, sage ich zu mir, kritzle weiter. 51444, Christianstadt. 55690, unbrauchbar. Nur noch eine Frau vor dem Mädchen. Ich frage mich, ob sie auf mich hören wird. Sie zittert kaum merklich. Sei mutig, denke ich und hoffe, sie hört es.
„Alter?“, brummt er. Sie: „Fünfzehn.“ Im Augenwinkel beobachte ich seinen abschätzigen Blick. Er wandert von ihrem zarten Kopf über die knochigen Schultern, Brustwarzen, hervorstehende Rippen, spärliche Schambehaarung, dürre Beinchen, bis zu den dreckigen Füßen. „Sehen Sie doch ihre Muskeln. Die ist es gewohnt kräftig anzupacken“, werfe ich hastig ein. Zu hastig? Die Angst lastet schwer auf meiner Brust. Ich halte den Atem an. Die Kleine blinzelt nervös, richtet sich auf. Verächtliches schnauben an meinem rechten Ohr. „Meinetwegen“, grunzt er. Aufatmen. Gott sei Dank. Das Mädchen hat eine Chance. 52476, Christianstadt.
In Gedenken an Ruth Klüger (*30. 10. 1931, ⴕ 06. 10. 2020) und ihr Werk „weiter leben“.
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