Drei Wünsche
Fast täglich fahre ich morgens mit der U-Bahn. Ich höre Musik und beobachte meine Mitmenschen. Die Frage, was sich in ihnen abspielt, schwirrt mir im Kopf herum. Doch heute ist es anders. Nicht ihre möglichen Alltagsprobleme kümmern mich. Nicht die Unterschiede ihrer Leben kümmern mich. Nein, nur eine Person ist heute meines Blickes wert. Auch wenn ich gestehen muss, dass all das was mich heute „nicht kümmert“ auf diese eine Person nicht zu trifft. Über sie will ich alles wissen. Ich sehe ihre smaragdgrünen Augen und wünsche mir, dass sie in meine blicken. Ich sehe, wie sie lächelt und wünsche mir, dass sie wegen mir lächelt. Ich sehe ihre zarten Hände und wünsche mir, dass sie mich berühren. Während ich sie aufs genaueste mustere, blickt sie von ihrem Buch auf und sieht sich um. Ihre kurzen, braunen Haare fallen ihr dabei ins Gesicht. Außergewöhnlich schön. Vermutlich hat sie gespürt, dass sie beobachtet wird. Mit geröteten Wangen blicke ich aus dem Fenster. Doch nun spüre auch ich ein Augenpaar auf mir. Oder ist das nur Einbildung? Ich wage es noch einen Blick auf sie zu werfen und tatsächlich. Sie sieht mich mit ihren strahlenden Augen an. Eine meiner Wünsche scheint schon in Erfüllung gegangen zu sein. Sie grinst und dieses Mal gilt das Lächeln anscheinend mir und nicht den Worten in ihrem Buch. Der zweite Wunsch. Vorsichtig hebe ich einen Mundwinkel, um mich nicht zu sehr zu blamieren, falls sie doch nicht mich meint, sondern einen alten Bekannten direkt hinter mir oder schlimmer: Jemand hinter mir, der gerade ebenfalls versucht mit ihr zu flirten. Falls man meine Aktionen überhaupt als flirten bezeichnen kann. Plötzlich zwinkert sie mir zu und schaut verlegen zurück in ihr Buch. Das hat eindeutig mir gegolten. Ich sollte sie ansprechen. Immerhin muss ich bald aussteigen und könnte aus der peinlichen Situation ohne Schwierigkeiten flüchten. Warum kann ich nicht selbstbewusster sein? Sie ist definitiv weniger schüchtern als ich. Verdammt, sprich mich doch an. Plötzlich sieht sie verwirrt in meine Richtung und steht auf. Kommt sie jetzt etwa zu mir rüber? Nervös richte ich meine Frisur. Doch sie dreht sich in die entgegengesetzte Richtung und geht auf die Türe zu. Ich blicke hinter mich und entdecke worauf ihr Blick gefallen ist. Die Stationenanzeige. Jetzt ist meine letzte Chance auf sie zuzugehen. Danach sehe ich sie höchstwahrscheinlich nie wieder und der dritte Wunsch wird niemals in Erfüllung gehen. Doch vermutlich war ihr Flirten sowieso nicht ernst gemeint. Wie groß ist schon die Chance, dass genau sie, dieser wunderschöne Mensch, auch homosexuell ist? Sie dreht sich nochmal zu mir um und lächelt. Die U-Bahn bleibt stehen und sie wendet sich von mir ab. Ihre Haare verdecken ihr Gesicht und verwehren mir einen weiteren Blick. Sie steigt aus und verschwindet langsam in der Menge. Im gleichen Moment schwöre ich mir, dass ich sie ansprechen werde, wenn ich sie jemals wiedersehen sollte.
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