Drei Wörter
An ihrem allerersten Schultag sollten alle Kinder von sich erzählen. Das tat auch Valeria. Sie beschrieb ihre Familie, ihren Hamster und ihr Zuhause, so wie alle anderen Kinder. Die Lehrerin bedankte sich, die restlichen Schüler schauten komisch.
Daran denkt Valeria als erstes, als sie aufwacht. Sie denkt an zuhause. An ihre helle Wohnung mit dem kleinen Garten davor, in dem im Sommer immer ein Planschbecken stand. Das Planschbecken steht jetzt unter einem Loch im Dach und fängt den Regen auf. Alle drei Sekunden ein Tropfen. Valeria hat gezählt.
Es ist dunkel in dem Raum, da vor dem einzigen Fenster ein Baum steht. Valeria mag diesen Baum nicht. Sie findet ihn gruslig. Und grauslich. Bei offenem Fenster klettern handtellergroße Spinnen herein. Dreimal hatte sie schon eine auf ihrem Kopfpolster. Dreimal! Valeria hat gezählt. Zuhause war das einzige Tier im Haus der Dackel ihrer Nachbarn.
Valeria weiß, dass sie nicht mehr an Zuhause denken sollte.
Das ist so wie damals, als ihre Oma gestorben ist und sie sie von einem Tag auf den anderen nicht mehr gernhaben sollte. Wenn man sich Hass einredet, dann vermisst man die geliebten Menschen, die gegangen sind, nicht. Und so, wie sie sich damals eingeredet hat, dass ihre Oma nur irgendeine verwirrte Greisin mit müffelnder Strickjacke war, so wäre es gut, wenn sie sich jetzt einredet, dass dieser Ort hier ihr Zuhause ist. Das, was sie bisher kannte - das war nicht Zuhause. Zuhause, das ist hier. Das sagen ihre Eltern und älteren Geschwister, das sagt die fremde Frau, die ihre Tante ist. Und das haben auch die Blicke ihrer Klassenkameradinnen am ersten Schultag still gerufen. Alle 23. Valeria hat gezählt.
Sie mag diese neue Heimat nicht. Sie würde gerne wieder heim. Aber Valeria weiß auch, dass ihr Zuhause nicht mehr länger ihr Zuhause ist. Sie begreift zwar nicht, wieso das Fremde plötzlich bekannt sein sollte und das Vertraute fremd, aber das ist so aus einem Grund, den niemand ändern kann. Valeria hat generell wenig verstanden, von dem, was der Polizist gesagt hat, der vor kurzem - das war noch zuhause - vor der Tür stand. Mama hat ihn hereingewunken. Papa war noch nicht daheim. Valerias Schwester musste übersetzen. Valeria hat gelauscht. Da kamen Wörter vor wie „irregulärer Aufenthalt“ und „freiwillige Ausübung illegaler Beschäftigung“. Insgesamt waren es drei Wörter, die Valeria weder in der Sprache verstand, die ihre Freunde und auch der Polizist sprechen, noch in der Sprache ihrer Familie. Wegen drei unverständlicher Wörter, „Einreise“, „Aufenthalt“ und „Beschäftigung“ mussten sie ihr Zuhause verlassen. Dass drei Wörter so einen Unterschied machen können. Drei – Valeria hat gezählt.
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