Du und ich
Wir gehen nebeneinander her, du und ich. Ich muss mich ein wenig anstrengen, Schritt zu halten. Deine Beine sind so lang. Als ich klein war, war ich stolz auf dich. Dass du so groß warst und ich nur die Hälfte von dir. Ich bin auf deinen Füßen gestanden und du bist rückwärtsgegangen. Ich habe immer noch deinen Geruch in meiner Nase und spüre deine knochigen Füße unter meinen Sohlen. Damals warst du schlaksig, jetzt haben sich die Chips und Popcorn der letzten 20 Jahre doch zu einem kleinen Bäuchlein abgesetzt. Stolz bin ich schon lange nicht mehr auf dich. Dafür warst du zu wenig da und hast im Gegenzug mit zu vielen Frauen geschlafen, die nicht meine Mutter waren. Du liebst mich und ich habe dich lieb, doch du kennst mich kaum. Wir teilen uns die Hälfte der Chromosomen, doch du kennst nur einen Bruchteil des Lebens, das ich führe, seitdem du weg bist. Du bekommst nicht mit, wie ich neben mir bin, wenn ich um sechs Uhr morgens frühstücke, welche kleinen Ereignisse der Tag gebracht hat, und wenn ich meine Tränen der Verzweiflung zurückhalte, weil Erwachsenwerden scheiße ist. Wir sehen uns zirka dreimal die Woche, und wenn, dann ist alles wie durch Lautsprecher verstärkt. Du bemühst dich und ich schätze das. Aber nur, weil ich mir einmal Zuckerstangen gekauft habe, heißt das nicht, dass ich gleich drei Kilo davon will. Es zeugt von Liebe, aber auch von Unwissen. Dass ich auch Toffifee und Haribo und Lollipops mag. Aber ich weise dich nicht darauf hin. Denn ich bin oft genauso wie du. Genauso ein Feigling. So wie du vor zwei Jahren Angst vor der Reaktion meiner Mutter auf die Trennung hattest. So habe ich Angst vor deiner Reaktion. Manche würden sagen, „Mut ist die Abwesenheit von Angst“, aber das ist nicht wahr. Mut ist die Fähigkeit, diese Angst zu überwinden.
Wir gehen nebeneinander her. Bald stehen wir vor meiner Tür, die früher auch deine war. Doch du hast nun einen anderen Heimathafen, ein anderes Leben.
Die Worte liegen mir im Mund, aber der ist plötzlich trocken. All die Zweifel, Unsicherheiten und Ängste kommen wieder auf mich zu. Die letzte Laterne.
„Papa?“ – „Hmm?“ – Stille.
„Ich glaube, ich muss dir was erzählen.“
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