Dunkelheit
Dunkelheit. Ich habe mir Blindheit bisher immer als Dunkelheit vorgestellt. Wenn ich mir Blindheit überhaupt vorgestellt habe. Aber so ist sie nicht. So war sie nicht. Nicht für mich.
Der Wecker läutet. Ich öffne meine Augen. Und sehe nicht mein Zimmer, keine Sonne, die durch die halboffenen Jalousien leuchtet. Ich sehe ein Nichts, eine graue Leere. Sowie wenn einem schwindlig ist, Punkte vor den Augen, man sieht nur mehr Flecken des Raumes. Nach einem heißen Bad, wenn man seine Tage hat. So ähnlich ist das, was ich jetzt sehen kann. Nur ohne die Flecken Raum. Ein Nichts, graues Nichts.
Ich schließe die Augen. Blinzle. Mein Wecker läutet weiter. Neben mir stöhnt Lukas auf. Panik.
„Ich seh nichts.“
„Was?“ Verschlafen, noch nicht ganz wach, warum ist dieser Wecker noch nicht aus?
„Ich seh nichts.“
„Mausi, mach das aus.“
„Ich seh nichts.“
Ein Arm, der über mich drüber greift, ein warmer Körper. Der Wecker geht aus.
Ich spüre das Bett unter mir, die Decke, im Schlaf abgeworfen, schwer auf meinen Unterschenkeln.
Ich weiß, das ist kein Albtraum.
„Mausi, du siehst nichts?“
Ich setze mich auf, schaue in Richtung Stimme.
„Gar nichts.“
Ich spüre Tränen auf meinen Wangen, schlucke, merke, dass ich mir die Nase putzen muss.
„Mausi?“
Spüre Arme, die sich um mich legen, mich halten. Rieche den vertrauten Duft, ist er intensiver als sonst oder kommt es mir nur so vor?
„Deine Augen sehen ganz normal aus.“
Ich spüre Wut, die in mir aufsteigt, irrational.
„Ist doch egal, ob sie normal aussehen oder nicht, ich seh nichts!“
Und Lukas hält mich fest. Redet auf mich ein. Versucht, mich zu beruhigen. Bietet an, sofort mit mir in ein Krankenhaus zu fahren.
Doch ich kann mir nicht vorstellen, aus dem Bett zu steigen, ohne sehen zu können, mich fertig zu machen, ohne sehen zu können, in sein Auto zu steigen, ohne sehen zu können… In sein Auto in dem Gelb, das mir nicht gefällt. Und jetzt sehne ich mich nach nichts mehr als einer Farbe, einer Farbe, die nicht dieses graue Nichts ist, und sei sie Opel-Kultgelb.
Als ich daran denke, lache ich. Hoch, schrill. Kein glückliches Lachen, ein hysterisches Lachen, ein Ich-kann-nicht-mehr-Lachen.
Habe ich jemals zuvor mein Augenlicht geschätzt, das jeden Augenblick einfängt?
Lukas telefoniert im Nebenzimmer, ich liege im Bett, eingerollt, unfähig, aufzustehen. Spüre etwas Weiches, das mich anstupst. Merke, dass ich problemlos meine Katze streicheln kann, ohne sie zu sehen.
Ich weine nicht mehr. Auch die Angst ist weg. Ich fühle nur mehr das weiche Fell der Katze, höre ihr Schnurren und Lukas Stimme.
Und obwohl alles anders ist, ist auch irgendwie alles gleich.
Dunkelheit. Ich habe mir Blindheit bisher immer als Dunkelheit vorgestellt. Wenn ich mir Blindheit überhaupt vorgestellt habe. Aber so ist sie nicht. So war sie nicht. Nicht für mich.
Wir danken unseren Unterstützern
Mit Unterstützung folgender Wiener Bezirke:
Für Sponsoringanfragen wenden Sie sich bitte an Margit Riepl unter margit.riepl@gmx.at
Wenn Sie "Texte. Preis für junge Literatur" unterstützen möchten, spenden Sie bitte auf folgendes Konto:
Literarische Bühnen Wien, Erste Bank IBAN: AT402011182818710800, SWIFT: GIBAATWWXXX