Edvard Munch
Knacks. Die Bleistiftspitze zerbröselte auf dem weißen Papier auf meinem Schoß. Genervt schloss ich meine Augen und zählte langsam bis zehn. Das Licht zeichnete bunte Formen auf die Innenseiten meiner Lider. Bei sieben hielt ich es schließlich nicht mehr aus. Hektisch strich ich mir durch die Stirnfransen und stand auf, sammelte alles zusammen und verließ meinen Platz. „1980!“ Einer der Köpfe, die mir die Sicht auf das Bild versperrt hatten, schoss triumphierend in die Höhe.
Meine lederne Aktentasche presste ich an mich, während ich mich durch die Menschenmasse schlängelte. Ausschnitte von Meisterwerken aus der ganzen Welt blitzten immer wieder zwischen Schultern und Haarschöpfen hervor. Manchmal erhaschte ich nur durch Handybildschirme einen Blick auf sie. Klein, verzerrt und ihres ganzen Charmes beraubt, wie ich fand. Andauernd wurde ich von jemandem angerempelt. Ich hätte mich schon lange auf den Weg machen sollen, aber ich war noch nicht bereit mich alldem zu stellen. Deshalb huschten meine Augen weiterhin unkontrolliert durch die Menge auf der Suche nach einem Fluchtweg vor einer Gefahr, die ich nicht bestimmen konnte. Mühsam navigierte ich mich so weiter durch die Ausstellung. Tack-Tack. Tack-Tack. Immer wieder trommelte ich mit dem Bleistift gegen das Leder meiner Tasche. Tack-Tack. Tack-Tack. Ich konzentrierte mich auf die Bewegung und das regelmäßige Geräusch, es hielt mich bei Verstand. Vor einem Bild hatte sich eine riesige Menschentraube gebildet. Am Rand nahm ich eine Führerin war, ich erkannte sie an dem Headset. Sie versuchte gerade vergeblich, ihrer Gruppe Platz zu verschaffen. Genauso muss es in meinem Kopf aussehen, dachte ich. Ein kläglicher Kampf um Ordnung und Ruhe. Kleine Fältchen begannen sich gerade auf der Stirn der jungen Frau zu bilden, als mir plötzlich ein roter Haarschopf die Sicht auf das begehrte Gemälde freimachte. Edvard Munch. Der Schrei. Tack – ich hielt in der Bewegung inne. Warum er wohl schrie, der Mann auf dem Bild? Ich musterte den weit aufgerissenen Mund und die düsteren Pinselstriche. Das bleiche Gesicht stach deutlich hervor. Ebenso die kalkweißen Hände, die er verzweifelt gegen seine Ohren presste. Es war als wollte er die Menschen, die um das Bild wuselten, nicht hören. Sie anflehen, doch bitte leise zu sein. Still. Oder waren es seine Gedanken, die ihn quälten? Probehalber legte ich meine Handflächen an meine Ohren. Zögerlich. Behutsam. Der Bleistift, den ich noch immer in meiner linken Hand hielt, stach leicht in meine Kopfhaut. Rauschen. Nichts als Rauschen. Es war als hätten meine Gedanken die falsche Radiosequenz gewählt. Ich formte mit meinem Mund ein O. Wie der Mann auf dem Bild. Ich dachte an Edvard Munch, als ich schrie. Alles verstummte. Alle Blicke waren auf mich gerichtet, auf das ach so unscheinbare Mädchen. Vielleicht hatte er nicht den Schrei gemalt, schoss es mir durch den Kopf. Vielleicht war es ja die Überraschung.
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