EHRLICH GESAGT
Eine Schulklasse. Der Lehrer steht vorn an der Tafel und die Schüler unterhalten sich leise.
Lehrer: Wer kann diese quadratische Gleichung lösen? (Er blickt sich um und nickt einem Jungen aus der ersten Reihe zu. )
Er steht zögernd auf und geht zur Tafel. Er hebt die Kreide auf und lässt sie wieder sinken, er dreht sich um und spricht zum Publikum.
Junge: Ich bin erst 16 Jahre alt, beziehungsweise jung. Wie man es halt betrachtet. Ich habe mein ganzes Leben vor mir. Die wichtigen Entscheidungen kommen noch, sagen meine Eltern. Die besten Zeiten kommen noch, sagen meine Freunde. Die schweren Prüfungen kommen noch, sagen meine Lehrer.
Aber ich verstehe nicht.
Er geht näher Richtung Publikum und gestikuliert leidenschaftlich während er spricht.
Junge: Ich habe die letzten 16 Jahre nichts anderes gemacht als Entscheidungen getroffen. Welche Haarfarbe ich zum Beispiel will… Nein, braun ist nicht meine natürliche Haarfarbe (lacht). Mit welchem Mädchen ich zu meinem ersten Schulball gehen will, das war nervenaufreibend (sanftes lächeln). Welche Kurse ich in der Schule belegen will, die mich dann auf meine nächsten 45 Jahre vorbereiten. Welche Entscheidungen kommen noch? Wovon redet ihr alle?
Er holt tief Luft.
Junge: Jung zu sein ist unendlich. Man lebt und lebt und lebt und dann ist man glücklich und wieder traurig und manchmal auch beides zugleich, es geht immer so weiter, ich kann aber nicht erklären wieso.
Ich stelle mir Erwachsenen sein fantastisch vor, man bedenke nur die Freiheiten, die man besitzt, das Wissen, dass man sich über die Jahre gesammelt hat und die Sicherheit, mit der man durch das Leben stolzieren kann. (Mit übertriebener Dramatik) Und man stelle sich nur vor wie einfach das Leben wird, wenn man plötzlich von allen ernstgenommen wird!
Er setzt sich auf den Boden und spricht nun mit vollem Vertrauen zum Publikum.
Junge: Ich bin ehrlich, es braucht viel Mut, um sich einzugestehen, dass man, obwohl man als Jugendlicher die Erwachsenen nie versteht, sich nichts sehnlicher wünscht, als auch erwachsen zu sein.
Trotzdem will ich irgendwie im Herzen jung bleiben, voller unerreichbarer Träume, mit einer kindlichen Freude am Leben und mit einer Liebe fürs Entdecken.
Er geht zurück zu seinem Platz und setzt sich hin. Die Klasse und der Lehrer erwachen wieder.
Lehrer: Und? Die Lösungen? Quadratische Gleichungen werden dir immer und überall im Leben begegnen.
Er redet kurz direkt zum Publikum.
Junge: Wirklich? Na, wenn quadratische Gleichungen die einzigen Herausforderungen sein werden…
Ich weiß es ist nicht so einfach (lacht), aber trotzdem … Ich bin bereit.
Es dauert aber noch so lange. Ich bin so wie ein drängelndes Kind, übermütig, dass nach Stunden im Auto sitzen ununterbrochen fragt: „Wann sind wir endlich da?“
Er holt tief Luft und beugt sich zum Publikum.
Junge: Wann bin ich endlich da?
Die Bühne wird dunkel.
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