Ein Abend von vielen
Es ist Ende Mai, die Bäume und Grünflächen in den Innenhöfen und Parks von Wien blühen schon in voller Pracht. Der kleine Maximilian watschelt jetzt mit einem noch leicht wackeligen Gang, aber voller Stolz mit seinem liebsten Miniatur-Plastiksoldaten am Kinderspielplatz umher. Dass gerade keine anderen Kinder da sind, bei denen er mit dem Spielzeug hätte angeben können, bremst seine hervorragende Stimmung keineswegs. Alleine die Tatsache, dass seine beiden Eltern scheinbar ganz friedlich gemeinsam auf einer Parkbank sitzen und ihm zusehen, befriedigt den Kleinen zur Gänze. Jedoch kann man, wenn man das Gesicht von Maximilians Mutter aus der Nähe betrachtet, eine von ihr ausgehende, etwas angespannte Stimmung wahrnehmen. Nach einer Weile stillem Dasitzens spricht sie, bemüht, den nervösen Unterton in ihrer Stimme zu verbergen, zu ihrem Mann: „Ich muss jetzt gehen, ich hab…ich hab einen Arzttermin. Ich weiß nicht, wie die Wartezeiten sind und komme erst spät zurück. du musst mit Maxi schlafen gehen, bitte.“ Maximilians Vater antwortet nicht sofort, erwidert dann aber leicht gereizt: „Ja, mach ich, meinetwegen.“ „Danke“, sagt Maximilians Mutter knapp, bevor sie aufsteht und zu ihrem Sohn geht, um ihm mit einem Abschiedskuss zu signalisieren, dass er den Rest des Tages mit seinem Vater, der nun schon seit über einem Jahr fast jeden Abend außer Haus ist, verbringen wird. Doch der Kleine versteht nicht, versteht nicht, wieso sie ihn nicht mitnimmt, als sie den Spielplatz verlässt, und bricht in Tränen aus. Doch sobald sein Vater ihn in die Arme nimmt und sich mit ihm wieder auf die Parkbank setzt, vergisst Maximilian sein Leid schnell wieder. Er hat nicht die geringste Ahnung davon, dass seine Mutter mit ihrem Verschwinden, mit ihrem angeblichen Arzttermin, einen neuen Lebensabschnitt begonnen hat - einen neuen Lebensabschnitt, in dem weder ihr Sohn, noch ihr Mann, der nicht einmal in Frage gestellt hat, wieso seine Frau so plötzlich zum Arzt muss, Platz haben. Auch dem jungen Vater scheinen derartige Dinge gerade keine Sorgen zu bereiten, denn er überlegt jetzt krampfhaft, wie er seinen kleinen Sohn an diesem Abend loswerden könnte, um sich auch heute noch der allzu herrlichen Welt des Trinkens hinzugeben. Als ihm eine simple Lösung eingefallen ist, weckt er seinen Sohn, der bereits auf seinem Schoß eingeschlafen ist. Er führt den kleinen, noch recht verschlafenen Maximilian zum Ausgang des Spielplatzes und sagt zuversichtlich: „Ich bring dich dann zu Oma, du magst sie doch, stimmt's?“ Er hält kurz Inne und überlegt für den Bruchteil einer Sekunde, ob er das Richtige tut. Fragt sich genau Das, was seiner Frau bereits seit über einem Jahr zu schaffen macht und der Grund für ihr allmähliches Verschwinden ist. Fragt sich, ob sie alle miteinander noch können, irgendwie ein schönes Leben führen können. Dann aber setzt er entschlossen fort: „Ja, du magst Oma. Du wirst heute Nacht bei ihr schlafen, Maxi. Papa muss noch wo hin.“
Wir danken unseren Unterstützern
Mit Unterstützung folgender Wiener Bezirke:
Für Sponsoringanfragen wenden Sie sich bitte an Margit Riepl unter margit.riepl@gmx.at
Wenn Sie "Texte. Preis für junge Literatur" unterstützen möchten, spenden Sie bitte auf folgendes Konto:
Literarische Bühnen Wien, Erste Bank IBAN: AT402011182818710800, SWIFT: GIBAATWWXXX