Ein anderer Weg
«Geh bitte. », hörte das Kind die gebrochene Stimme der Mutter aus dem Wohnzimmer. Es hatte nicht die ganze Unterhaltung mitbekommen, aber die Wörter «deine Mitarbeiterin», «Scheidung» und «ich hasse dich» haben gereicht.
«Geh bitte. », meinte das sechzehnjährige Mädchen, nachdem der alleinerziehende Vater wissen wollte, was los war, ohne zu wissen, dass ihre Welt gerade zum zweiten Mal in ihrem Leben zusammenbrach.
«Geh bitte! », rief der siebzehnjährige seinem ehemaligen besten Freund zu, weil er genau wusste, wie käuflich er war und ihn gut genug kannte, um zu wissen: er würde sich nie ändern.
«Geh bitte. » Zwei Wörter, drei verschiedene Situationen. In allen wird die Furcht und Sehnsucht vom Alleinsein zugleich gespiegelt. Einige von ihnen meinten es, andere wollten den Gegenüber kämpfen sehen. In allen Situationen wird ein Schmerz ausgedrückt, den man nicht beschreiben kann und deshalb diese simple Aufforderung verwendet
«Geh bitte. », heisst: «Lass mich allein zum Nachdenken. » Nachdenken, um zu verstehen, woher dieser Schmerz kommt. Nachdenken, um zu verstehen, was diesen Schmerz eigentlich verursacht. Nachdenken, um zu verstehen, was diesen Schmerz heilen kann.
«Geh bitte. », scheint in allen drei Personen den schlimmsten Schmerz verursacht zu haben. Weil die Überwindung dieser zwei Worte mehr Mut braucht als der Sprung ins Wasser von der höchsten Klippe.
«Geh bitte. », sie sagen alles aber trotzdem nichts.
«Geh bitte. » drückt einen Schmerz aus, dem man niemandem wünscht. Mit diesen Wörtern will man ihm ein Ende setzen. Aber nicht jede oder jeder meinten es so. Sie sagen «Geh bitte. », aber wollen «Bleib hier. » schreien.
«Geh bitte. » Alle drei wussten: Sie müssen diese Leute gehen lassen. Sie würden es wieder tun, ohne Frage.
Mit «Geh bitte» sagen sie das eine, aber meist wünschten sie sich, es hätte einen anderen Weg gegeben.
Einen Weg, der allen beteiligten das Herz nicht ganz so zerreissen würde.
Der diese Worte nicht notwendig machen würde.
Der keine Spuren hinterlassen hätte.
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